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Dichtestress im Hirn

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Eine Diagnose der Schweizer Gemütslage

Im Ringen um ein zukunftstaugliches Selbstbild der Schweiz gibt es Blockierungen,  die auf einen Dichtestress im Hirn zurückzuführen sind: Man hält die eigene Wahrheit über die Schweiz für die einzig richtige und übersieht dabei, dass eine Wahrheit niemals das Gegenteil einer anderen Wahrheit sein kann. Ein Bekenntnis zu einem entschiedenen sowohl als auch könnte diese Blockierungen lösen. 

La Suisse n’existe pas

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1992 war der Schweizer Pavillon an der Weltausstellung in Sevilla mit einem Spruch beschriftet, der wackere Patrioten zur Weissglut trieb: La Suisse n’existe pas. Wörtlich übersetzt: Die Schweiz existiert nicht.

Eines haben die zahlreichen damaligen Kritiker des Slogans übersehen: Dieser stellt keineswegs die Existenz der Schweiz an sich in Frage. Sehr wohl aber die Existenz der einen, einheitlichen und klar definierbaren Schweiz. Hätte der für den Spruch verantwortliche Künstler damals die Intelligenz mancher Schweizerinnen und Schweizer nicht überschätzt, hätte er wohl ein grafisches Hilfsmittel benutzt und die Aussage so formuliert: Die Schweiz existiert nicht.

Aus heutiger Sicht war der Spruch prophetisch, denn wir sehen je länger mehr nicht eine einheitliche Schweiz, sondern gleichsam viele Schweizen. Es existieren zahlreiche widersprüchliche Bilder der Schweiz, die sich je nach Perspektive teils grundsätzlich unterscheiden.

Da gibt es zum Beispiel das Bild von der Schweiz als Hort und Schutzhafen korrupter Organisationen wie der FIFA, wobei es nicht als Zufall betrachtet wird, dass deren langjähriger Chef ein Schweizer ist. Oder jenes vom Sitz von Banken, die Dreck am Stecken haben und ständig in irgendwelche Prozesse verwickelt sind. Gerne gilt die Schweiz auch – im In- wie im Ausland – als Nation, die kaltherzig nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist und sich als Rosinenpickerin einen zweifelhaften Ruf erworben hat.

Reichlich verbreitet ist auch das Bild von der Schweiz als einem Land, das alles richtig gemacht hat und seine Errungenschaften jetzt gegen raffgierige Einwanderer oder die machtgierige Bürokratie in Brüssel verteidigen muss. Als Gegenbild wird eine Schweiz gezeichnet, die eine starke Zuwanderung erstaunlich gut gemeistert hat und dank ihrer wirtschaftlichen Verflechtung mit der ganzen Welt blüht und gedeiht.

Überhaupt lässt sich die Schweiz auch als offenes, wandlungsfähiges und innovatives Land sehen, das es immer wieder geschafft hat, sich dem Wandel der Zeiten und Welten anzupassen und das Beste daraus zu machen. Und das Künstler, Wissenschaftler und Sportler von Weltruhm in erstaunlicher Anzahl hervorgebracht hat.

Das „wahre“ Bild der Schweiz

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Diese Galerie der Schweiz-Bilder liesse sich beliebig erweitern. Und auch dann würden wir bei unvoreingenommenem Blick ein wichtiges Phänomen feststellen: Jedes dieser Bilder ist wahr. Aber es ist eben nicht ausschliesslich wahr, sondern auch wahr. Jedes Bild enthält einen Teilaspekt der Wahrheit über die Schweiz, doch niemals die ganze Wahrheit. Erst zusammen ergeben diese unterschiedlichen Schweiz-Bilder einen einigermassen umfassenden Eindruck.

Nur wenn wir diese einfache Tatsache anerkennen, lassen sich die Blockaden, die gegenwärtig den Prozess der Suche nach einem zukunftstauglichen Selbstbild der Schweiz behindern, auflösen. So weit sind wir leider noch lange nicht. Stattdessen beharren viele Anhänger eines bestimmten Teilbilds der Schweiz darauf, dieses sei das ganze und einzig wahre, alle anderen Teilbilder müssten deshalb falsch sein.

Woran liegt das? Ich glaube, daran, dass dieses sture Festhalten an Teilwahrheiten auf eine Art Dichtestress im Hirn zurückzuführen ist. Das Wort Dichtestress“ tauchte im Laufe der Diskussionen um die Zuwanderungs-Initiative auf und meint das Phänomen, dass wir Menschen uns unwohl fühlen, wenn wir die Empfindung haben, der uns zur Verfügung stehende Raum sei zu sehr mit anderen gefüllt. Es wird uns dann zu eng, weil wir genau wissen, dass der Raum, den wir haben, endlich ist, weshalb dort nicht unendlich viele Platz haben.

Dieses Bild vom limitierten äussern Raum übertragen offensichtlich viele Menschen eins zu eines auf unsere inneren geistigen Räume und glauben deshalb, auch dort sei der Platz begrenzt. Wenn ich in dieser Logik beispielsweise ein anderes Bild der Schweiz als das gewohnte zulasse, geht dies zwangsläufig auf Kosten dieses gewohnten Bilds, das für die Zulassung des neuen einen Teil des Platzes räumen muss, den es bisher innehatte. So entsteht Dichtestress im Hirn, und ich werde alles tun, den angestammten Platz meines dominierenden Schweiz-Bildes zu verteidigen.

In den inneren Räumen herrscht kein Platzmangel

Doch diese Übertragung von den äusseren Platzverhältnissen auf die inneren ist – mit Verlaub – ganz einfach Quatsch. In den inneren geistigen Räumen herrscht kein Platzmangel, dort haben unterschiedlichste Bilder, Vorstellungen und Überzeugungen sehr wohl neben- und miteinander Platz.

Dort herrscht nicht das strenge Gesetz des „entweder – oder“ (entweder ich habe Recht oder du, beides zusammen geht nicht), sondern das weitaus lebensnähere Gesetz eines „entschiedenen sowohl – als auch“ (Dein Bild kann so richtig sein wie meines, und zusammen ergeben sie etwas, das grösser ist als die Summe seiner Teile).

Viele Experten halten Ambiguitätstoleranz für ein wichtiges geistiges Instrument für die Bewältigung unserer zukünftigen Herausforderungen. Dieser sperrige Begriff meint nichts anderes als die Fähigkeit, Widersprüche in unserer Wahrnehmung der Welt nicht nur auszuhalten, sondern spielerisch und kreativ mit ihnen umzugehen. Mit dieser Fähigkeit ausgestattet, können wir die Wahrheit nicht mehr als monolithischen Block betrachten, sondern als Diamanten mit vielen Facetten, von denen wir immer nur einige wahrnehmen können. Die Konfrontation mit anderen Facetten der Wahrheit erleben wir dann nicht mehr als Bedrohung, sondern als Bereicherung.

Ambiguitätstoleranz ist somit das Gegenteil von Dichtestress im Hirn. Das Gute daran ist: Diese innere Haltung lässt sich lernen. Wir Schweizerinnen und Schweizer waren in dieser Kunst immer schon ganz gut. Wir haben gelernt, dass die Schweiz ein Diamant mit vielen unterschiedlichen Facetten ist, der tatsächlich mehr ist als die Summe seiner Einzelteile. Wir wissen, dass es viele Schweizen gibt, die zusammen dieses widersprüchliche Gebilde namens Schweiz ergeben.

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Dieselbe Fahne wie in Bild 2, nur ohne Nebel…

Wäre das nicht ein hübsches Leitmotiv für den bevorstehenden Nationalfeiertag der Schweiz? Unsere bewährte Tradition der Einheit in der Vielfalt aufzunehmen und ins neue Jahrhundert zu transformieren, indem wir den Dichtestress im Hirn überwinden und Platz schaffen für viele Schweizen, die sich gegenseitig befruchten und bereichern? Schön wäre es jedenfalls…

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