Wertschöpfung durch Werte

Folge 3 von GELEBTE WERTE: Hotel Hofweissbad
Wer nach einem überzeugenden Beispiel dafür sucht, wie mit immateriellen Werten materielle Werte geschöpft werden können, wird im hintersten Appenzellerland fündig. Das Hotel Hofweissbad blickt auf eine zwanzigjährige Erfolgsgeschichte zurück, in der eine klare Werteorientierung die zentrale Rolle spielt.
Die Gesamtnote auf dem Hotelbewertungsportal HolidayCheck ist phänomenal: 5.7 (von sechs möglichen Punkten). Nur die Einzelnote für „Lage & Umgebung“ liegt mit 5.3 etwas tiefer. In der Tat findet sich das Viersterne-Hotel Hofweissbad nicht an einem sonnigen Südhang mit weitem Blickfeld, sondern in einem Talgrund am Rande des Dörfchens Weissbad. Die Strasse führt nur noch ein Dorf weiter und endet dann an steilen Berghängen. Keine Chance also für zufällige Passanten als Gäste. Und in Sachen Lage und Aussicht haben andere Hotels mehr zu bieten.
Eine Erfolgsgeschichte
Dafür hat das Hotel Hofweissbad in den letzten Jahren immer eine Zimmerauslastung von weit über neunzig Prozent vorzuweisen – übers ganze Jahr gerechnet. Das ist eine Quote, von der die Konkurrenz nicht einmal zu träumen wagt. Dazu kommen zahlreiche Auszeichnungen, die dem Hofweissbad von Hoteltestern und Gästen zugesprochen wurden. Kein Wunder also, dass der Betrieb rentiert, was im Hotelgewerbe in der Schweiz alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist. Die Finanzierung der Investitionen für die nächsten Ausbauschritte dürfte dem Hofweissbad deshalb leichter fallen als anderen Hotels..
Diese Erfolgsgeschichte war keineswegs vorherzusehen, als vor einem Vierteljahrhundert einige einheimische Idealisten beschlossen, das zur Ruine verkommene alte Kurbad abzureissen und an seiner Stelle ein modernes Hotel einzurichten. Vor zwanzig Jahren eröffnet, ist das Hotel mittlerweile zum wichtigsten Arbeitgeber im Kanton Appenzell Innerrhoden geworden: Rund 180 Mitarbeitende, darunter auch zahlreiche Lehrlinge, sorgen für das Wohl der Gäste.

Strahlende Vergangenheit und Zukunft…
Bei einem Besuch an einem normalen Werktag Mitte November zeigt sich, dass diese Gäste nicht nur zahlreich sind, sondern auch ganz verschieden. Draussen plaudert ein Grüppchen Krawattenträger, offensichtlich Seminargäste. Drinnen sieht man mehrere Gäste mit Gehhilfen – sie nehmen das Gesundheitsangebot des Hotels in Anspruch. Wieder andere sind offensichtlich ganz normale Feriengäste, die ein paar Tage Ruhe und vor allem Gastfreundschaft geniessen wollen.
Christian Lienhard, der Hoteldirektor, hat sich bereit erklärt, mir das Geheimnis dieser Erfolgsgeschichte zu verraten. Ich spreche ihn gleich auf diese ungewöhnliche Mischung verschiedener Gästegruppen an, hatte ich doch gehört, dass immer wieder prophezeit worden war, das könne nicht funktionieren, kranke Menschen wollten nicht unter demselben Dach sein wie gesunde, und umgekehrt.
»Wie man sieht, funktioniert es doch«, antwortet er. »Natürlich achten wir auf eine kluge Mischung der verschiedenen Gruppen. So ergeben sich positive Nebenwirkungen. Jemand, der einen Kuraufenthalt gemacht hat, kommt gerne auch als Feriengast oder Seminarteilnehmer wieder, und so fort. Wenn Sie heute ein Hotel das ganze Jahr über füllen wollen, was die einzige Chance ist, rentabel zu arbeiten, dann brauchen Sie eine solche Mischung. Wir haben dafür offenbar den für uns richtigen Weg gefunden.«
Kontinuität als Wert
Wenn Christian Lienhard „wir“ sagt, meint er damit zu Recht sich und seine Frau, die zusammen mit Chefarzt Dr. Tobias Ritzler das Leitungsteam bilden. Herr und Frau Lienhard sind von Anfang an Gastgeber im Hofweissbad gewesen und feiern dieses Jahr ihr zwanzigjähriges Jubiläum. Das ist aussergewöhnlich in einer Branche, in der Direktoren alle zwei oder drei Jahre wechseln. Auch zahlreiche seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind seit vielen Jahren dabei.
Das Hotel Hofweissbad fördert diese Betriebstreue bewusst, etwa indem es allen Mitarbeitenden einen Dreissigstel ihres Lohnes für Weiterbildung anbietet, unabhängig davon, ob diese etwas mit ihrer beruflichen Tätigkeit zu tun hat oder nicht. »Wenn dadurch jemand ein Jahr länger bleibt,« erläutert Christian Lienhard, »dann bewahren wir nicht nur wertvolles Erfahrungswissen, sondern sparen uns auch die ganzen Kosten für Neurekrutierung und Einarbeitung. Die Massnahme dient also nicht nur den Mitarbeitenden, sie rechnet sich auch.«

In der Nähe des Hofweissbad: Kontinuität im Wandel…
Im Hofweissbad wird grosser Wert auf Kontinuität, auf langfristiges Denken und Handeln gelegt, vor allem, wenn es um das Personal geht. Das scheint sich auszuzahlen: Auf der Internet-Plattform booking.com erhält das Personal des Hofweissbad eine glatte Zehn! So was kommt nicht von ungefähr. Hotelpersonal behandelt die Gäste nur dann optimal, wenn es selbst optimal geführt wird. Und das ist hier offensichtlich der Fall: Zum zweiten Mal hintereinander hat das Hofweissbad in seiner Grössenkategorie die Auszeichnung „Bester Arbeitgeber der Schweiz“ erhalten. Grundlage für diese Bewertung bildet ausschliesslich die Einstufung durch die Mitarbeitenden selbst.
Organische Vorbilder
Als ich Christian Lienhard nach dem Zusammenhang zwischen dieser Einstufung und dem Erfolg auf der Gästeseite frage, verschwindet er kurz in seinem Büro und kommt mit einem Buch und zwei Blättern zurück. Auf dem einen Blatt ist ein normales Organigramm zu sehen. So was brauche man eben, wenn man eine Aktiengesellschaft sei, meint er dazu, um hinzufügen, von den etwa dreitausend Aktionären bestünde die eine Hälfte aus zufriedenen Stammkunden.
Das zweite Blatt ist mit „Organisationsstruktur im Hofweissbad“ betitelt, zeigt aber kein Kästchendiagramm, sondern die Zeichnung eines Baumes. In der Mitte ist der Baumstamm sichtbar, beschrieben mit „(Stamm-)Gäste“. Die Wurzeln stehen für verschiedene fundamentale Erfolgsfaktoren wie „Investitionen“, „betriebliche Strukturen“ oder „Konzepte“, aber auch für „Personen als Gastgeber“. Die Äste wiederum symbolisieren die verschiedenen Angebote und Tätigkeitsfelder des Hotels, von „Käserei“ bis „Physiotherapie“, von „Garten“ bis „Technik“.
Diese Zeichnung, so Lienhard, entspreche dem inneren Bild des Unternehmens. Das gefällt mir, predige ich doch schon lange, Management und Führung sollten sich nicht am Bild des Mechanikers orientieren, der die richtigen Hebel drückt, sondern an jenem des Gärtners, der einem Organismus die besten Voraussetzungen zur eigenen Entfaltung bietet. Hier wird offenbar so gedacht und gehandelt.

Organisches Organigramm der eigenen Art…
Wie du mir, so ich dir
Das völlig zerfledderte Buch, das Christian Lienhard mitbringt, trägt den Titel „Management by Love“. Das, meint er, sage eigentlich schon alles. Wobei es nicht um sentimentale Gefühlsduselei gehe, sondern einfach um die Grundhaltung, mit der man den Mitarbeitern begegne. Dabei gilt für ihn ein einfaches Prinzip: Gehe mit den anderen so um, wie du dir wünschst, dass mit dir umgegangen wird.
Stichworte dafür braucht man nicht lange zu suchen: Respekt. Vertrauen. Wertschätzung. Die Mitarbeitenden im Hofweissbad erhalten möglichst grosse eigene Handlungsspielräume. In grosse und kleine Entscheidungen werden sie mit einbezogen. Sie danken für dieses Vertrauen, indem sie etwa letztes Jahr Einsparungsvorschläge in Höhe von 150’000 Franken gemacht haben, solche notabene, unter denen weder die Gäste noch das Personal leiden. Hätte man diese Summe erwirtschaften müssen, rechnet Lienhard vor, hätte es dazu zusätzliche Einnahmen in zehnfacher Höhe gebraucht.
Dieses gegenseitige Vertrauensverhältnis, das zu einem echten Wir-Gefühl führt, wird im Hofweissbad durch ein Phänomen verstärkt, das für ein Hotel dieser Grösse und Preisklasse erstaunlich wirkt: Keine der Führungskräfte, Chef eingeschlossen, sitzt den ganzen Tag in seinem Büro. In den besonders hektischen Betriebsstunden, etwa zur Mittagessenszeit, packen alle Führungskräfte handfest mit an, sei es in der Küche oder im Service. Man könnte den dahinter liegenden Wert als Solidarität bezeichnen, doch das tut nichts zur Sache. Wichtig und für den Erfolg entscheidend ist einzig, dass hier Werte nicht nur gepredigt, sondern tatsächlich gelebt werden.
Werte rechnen sich
Dass hier alle, vom Lehrling bis zum Chef, einander du sagen, ist ein hübsches Symbol für das herrschende Gemeinschaftsgefühl aufgrund geteilter Werte. Anderes, wie die deutlich unterdurchschnittliche Krankheitsquote des Personals oder die Tatsache, dass die Anzahl der Entlassungen über die ganzen zwanzig Jahre sich an einer Hand abzählen lässt, wirkt sich direkt auf den Betriebserfolg aus.
Im Hotel Hofweissbad geschieht tatsächlich das, was nur auf den ersten Blick geheimnisvoll, ja beinahe alchemistisch kling: Wertschöpfung durch Werte. Weil sich der Umgang mit dem Personal an einigen einfachen, aber umso wertvolleren Werten orientiert, gibt dieses sein Bestes. Das merkt der Gast und ist bereit, diese Leistung angemessen zu bezahlen. Die Preise im Hofweissbad gelten als eher hoch, doch sie sind letztlich nichts anderes als Ausdruck der Wertschätzung für ausserordentliche Gastlichkeit und Freundlichkeit.

Die Liebe zum Detail…
Wir sprechen noch eine Weile über Details, in denen sich die Werthaltung der Gastlichkeit ausdrückt. So bezahlt das Hotel etwa eine pensionierte Bibliothekarin, welche die Hotelbibliothek des Hofweissbad – anderswo ein Ort des Grauens – zu einem Bijou gemacht hat. Zusätzlich finden sich in der Umgebung des Hotels knallrot bemalte Bücherkästen, in denen man sich mit neuen Literaturangeboten bedienen kann. Eine solche Liebe zum Detail entwickelt nur, wer die Werthaltung der Gastlichkeit ganz und gar verinnerlicht hat.
Einfach, und doch nicht…
Eigentlich, bilanziere ich die Summe meiner Eindrücke, erscheint es ganz einfach, ein Hotel erfolgreich zu führen, indem man sich einigen wenigen zentralen Werten wie Respekt, Vertrauen, Solidarität, Wertschätzung oder Nachhaltigkeit orientiert. Es braucht dazu keine komplizierten Managementmodelle oder einen Wust von statistischen Kennzahlen. Christian Lienhard bestätigt: Einige einfache Kennzahlen genügen durchaus.
Ich frage ihn zum Schluss, warum sein Modell, das so einfach und zugleich wirksam erscheint, so wenig Nachahmer fände. Er diagnostiziert den Hauptgrund bei einem Persönlichkeitsmerkmal vieler Chefs. Diese seien oft zu schwach, um souverän führen zu können, und bräuchten zur Kompensation dieser Schwäche möglichst viel Kontrolle und Macht. Was sich natürlich nicht mit einer Grundhaltung gelebter Werte vertrage.
»Man kann es auf eine einfache Formel bringen«, fügt er abschliessend hinzu: »Vorleben statt regieren!« Dem ist nichts hinzuzufügen.

Bücherkästen als Symbol für gelebte Gastlichkeit…