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Von Thailand und anderen Abenteuern

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Wir Schweizer

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Wir Schweizer

Aus der Traum?

Bis vor kurzem konnte man kaum ein paar Meter gehen, ohne an einem Haus oder an einem Auto die Schweizer Fahne zu sehen. Die Schweiz ist stolz auf sich und seine Nationalmannschaft, die nun im Achtelfinal gegen Argentinien beste Werbung für den Schweizer Fussball machte. Ein so kleines Land wie die Schweiz hat sich als eines der wenigen europäischen Teams für das Achtelfinale qualifiziert und hat gegen Argentinien eine respektable Leistung gezeigt.

Nun, warum ein Artikel auf spirit.ch zu diesem Thema, darüber wird doch schon genügend in der Presse berichtet? Der Grund: Diese WM hat einiges auf der Werte-Ebene bewegt und leicht verändert. Und mit Lebensqualität hat das Thema sogar sehr viel zu tun, denn all die Treffen mit Freunden und neuen Begegnungen wären so wohl ohne WM nicht so zahlreich gewesen. Und nicht zuletzt hat das Thema auch viel mit dem Geist (spirit) der Schweiz zu tun. Darum möchten wir nun die Ereignisse mal aus einer vielleicht etwas anderen Perspektive betrachten.

Am Dienstag-Abend schien die Schweiz still zu stehen. 75% der Fernsehgeräte waren ein- und unzählige „Public Viewing“ – Plätze aus der ganzen Schweiz zugeschaltet. Der Verlängerungs-Krimi nagte wohl bei vielen an den Nerven gleichzeitig mit dem Bewusstsein, das da wohl gar eine grosse Sensation möglich wäre. Man war (und ist) stolz auf das Nationalteam und freute sich über den Anlass. Es wurde wahrlich mitgefiebert und den Emotionen freien Lauf gelassen.

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Begeisterung pur beim 2:1 über Ecuador in der St.Galler AFG Arena

Und diesmal waren nicht nur wie früher nur die Männer begeistert. Auch viele Frauen waren voll dabei, und in den jüngeren Jahrgängen scheint es schon fast „en vogue“ zu sein, wenn man als junge Frau fussballbegeistert ist. Man schminkt sich, kleidet sich in den Nationalfarben und es wird der Kreativität der Zuschauer in Brasilien in der Bekleidung nachgeeifert. Kurz: es ist nicht mehr ein Männer-Anlass wie früher sondern ein Volksfest, das mit der ganzen Familie gefeiert wird. Unzählige Public Viewings sind von einigen Familien gemeinsam organisiert und die Familien treffen sich in unterschiedlichen Zusammensetzungen.

Und damit sind wir bei einer spannenden Entwicklung in den Werten: Fussball wird nicht mehr als primär maskulin gewertet und vor allem haben Emotionen zunehmend Ihren Platz, werden sogar erfreut wahrgenommen. Man kann, darf und will auch Gefühle zeigen. So konzentriert wie an dieser WM, die durch das brasilianische Flair und die Begeisterung geprägt ist, ist es wohl bisher noch wenig vorgekommen, das Gefühle so öffentlich gezeigt werden dürfen. Nicht nur die der Sieger, sondern auch die trauernden und wehmütigen Gefühle der Verlierer.

Und wir hatten auch Mitleid mit anderen Ländern, wie mit den Mexikanern, deren Team in der 87. Minute noch als vermeintlicher Sieger feierte und in der Nachspielzeit dann brutal rausgeworfen wurde. Oder mit den Chilenen, die glanzvoll spielten und dann das Penalty-Schiessen verloren. Aber auch mit Spanien, Italien, England und Portugal, die alle so früh ausschieden, wie es niemand erwartet hätte.

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Überall waren auch die Flaggen der anderen teilnehmenden Nationen zu sehen

Da auch Kroatien und Bosnien-Herzegowina früh aus dem Turnier ausschieden fehlten auf einmal die Feiern und Gehupe der Südländer in der Schweiz. Dafür unterstützen nun fast alle Eingebürgerten, Secondos und Migranten das Schweizer Nationalteam. Gemeinsam war man begeistert vom Schweizer Fussballspiel und selbst die Deutschen zollten enormen Respekt gegenüber dem Team.

Und damit kommen wir zu einem weiteren spannenden Thema mit Bezug auf die Werte. Auf einmal fieberten alle gemeinsam mit und viele Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen näherten sich einander an. Natürlich ist dies eine subjektive Betrachtung und mag nicht überall zutreffen, doch erlebte ich, der Autor dieses Artikels, die WM nun an vielen verschiedenen Orten und so wurde dieser Eindruck mehrfach bestätigt.

Gleichzeitig ist die Nationalmannschaft ein Bild der gelungenen Integration von Migranten und Secondos, was geflissentlich übersehen wird, aber sicherlich doch einmal einen genaueren Blick wert ist.

Die internationale Erfahrung und die interkulturelle Zusammensetzung unseres Teams ergeben einen durchaus erfolgreichen Mix. Zwei Drittel (15 von 23) dieses umjubelten National-Teams haben einen Migrationshintergrund. Dies ist vielleicht bekannt, doch wenig im Detail beleuchtet.

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Ein Viertel der Spieler ist im Ausland geboren (4 in einem der ehemaligen jugoslawischen Staaten, zwei in Afrika), die anderen sind sogenannte Secondos, das heisst die Eltern migrierten vor der Geburt Ihrer Söhne in die Schweiz.

Insgesamt haben 9 der Spieler Wurzeln in einem der ex-jugoslawischen Staaten, 5 andere haben südeuropäische Wurzeln und 2 haben eine afrikanische Herkunft (ergibt 16 – gemischte Wurzeln – Spanien-Serbien – hat Senderos).

Weniger bekannt ist, dass keiner der im Ausland geborenen Spieler älter als 5 Jahre war, als er in die Schweiz migriert ist. Von einem „Zukauf“ ausländischer Spieler kann also keine Rede sein. Alle haben Ihre aktive fussballerische Karriere in der Schweiz gestartet und wurden in der Schweiz ausgebildet.

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Nicht nur am Bildschirm war Fussball Trumpf

Fast alle sind heute dafür international orientiert. Von den 23 für die WM nominierten Spielern spielen nur 5 in der Schweiz, dafür aber 8 in Deutschland, 5 in Italien und 2 in Spanien.

Und alle 7 Tore an dieser WM wurden von Spielern mit Migrationshintergrund erzielt, 5 der 7 sogar von Spielern, die nicht in der Schweiz geboren wurden und alle 7 von Spielern mit ex-jugoslawischem Hintergrund. Auch 11 der 17 Tore der Qualifikation wurden von Spielern mit Migrationshintergrund erzielt.

Man kann also durchaus von einem Erfolg eines extrem multikulturellen Teams sprechen, auch wenn das die Freunde der Zuwanderungs-Initiative vielleicht nicht so gerne hören.

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Ein Bild aus weniger erfolgreichen Zeiten, beim Match gegen die Türkei bei der EM in der Schweiz 2008

Nun dann „Steht auf, wenn ihr Schweizer seit“ – was mit dieser in unzähligen Public Viewings skandierte Parole wohl genau gemeint ist, ist wohl für viele der begeisterten Sänger nicht ganz klar bzw. wird wohl auch überhaupt nicht hinterfragt.

International war auch die Unterstützung für das Schweizer Team. Nicht nur in Kosovo-Albanien, wo das Team schon fast als eigenes mitgefeiert wurde. Auch aus Brasilien, die sich über ein vorzeitiges Ausscheiden eines Ihrer härtesten Konkurrenten gefreut hätte. Und auch aus vielen anderen Ländern, die sich über das frech und selbst-bewusste Auftreten der Schweizer gegen Argentinien freuten.

Damit sind wir bei einem weiteren Wert, dem Selbst-Bewusstsein. Nach dem glücklichen Sieg über Ecuador etwas verunsichert, lag es nach dem Frankreich-Spiel schwer am Boden. Doch dann erholte es sich beim klaren Sieg gegen Honduras und erreichte einen neuen Höhepunkt in der Verlängerung gegen Argentinien. Nach all den negativen Berichten über die Schweiz im Zusammenhang mit den Banken und der Zuwanderungs-Initiative war das Balsam auf die Seele von vielen SchweizerInnen.

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Noch hängen die Flaggen der Schweiz

Das ist natürlich kein Wert der sich verändert hat, aber ein grosses Stück Lebensqualität. Die Schweizer erhielten Respekt von Bevölkerungsgruppen in der Schweiz, die sonst eher etwas über die Schweizer lächeln. Und das eigene Selbstwert-Gefühl hängt bei vielen wohl mehr als vermutet damit zusammen, wie sie sich als Angehörige einer Nationalität fühlen.

Nun „Aus der Traum?“ war die eingangs gestellte Frage. Diese Frage bezog sich nicht auf den wohl von einigen vielleicht erträumten WM-Titel.

Er bezog sich auf den Traum einer multi-kulturellen Gesellschaft, in der sich die Menschen für einander offen und respektvoll begegnen, die Gemeinsamkeiten in all den Unterschieden finden und einander lernen zu verstehen, auch wenn sie manchmal so unterschiedlich sind. Eine Schweiz, die selbst-bewusst sich als multi-kulturell bezeichnet und darin Vorteile und nicht nur Nachteile sieht.

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Die Schweiz hat mehrere Plus – vielleicht ein Vorschlag für eine neue Nationalflagge?

Einerlei, wir müssen – denn diese Multi-Kultur ist ja längst Tatsache – aufeinander zugehen, denn auch mit der Annahme der Zuwanderungs-Initiative wird der Ausländer-Anteil wohl kaum signifikant sinken und unsere folgenden Generationen werden bereits in ein multi-kulturelles Umfeld geboren.

Die Energien in Abgrenzungs- und Bewahrungs-Versuche zu investieren scheint vor diesem Hintergrund sinnlos. Besser wäre es, dass wir uns als ein Land verstehen, dass seine Energie daraus schöpft, dass man sich gegenseitig achtet und respektiert und voneinander lernt. Und dafür gab diese WM bis jetzt ein praktikables und durchaus nachahmenswertes Beispiel.

Ob dieser Traum weiter geträumt werden darf? Nun, auf jeden Fall ist dieser Traum nicht im Achtelfinalspiel ausgeschieden und wird wohl noch einige Zeit nachwirken.

 

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