Heimat Helvetia

Eine Liebeserklärung an die Schweiz
Ein Jahr nach seiner Rückkehr in die Schweiz, im Jahr 1994, schrieb Andreas Giger eine Liebeserklärung an die Schweiz. Viele der darin beschriebenen Qualitäten der Schweiz sind nach wie vor gültig – die Lektüre lohnt sich deshalb.
HEIMAT HELVETIA beinhaltet sieben Briefe an die reale Geliebte und Frau des Autors. Titelblatt, Inhaltsverzeichnis, Lese-Tipp und ersten Brief finden Sie nachstehend. Das ganze Manuskript können Sie als PDF-Datei herunterladen.

INHALT:
Ein kleiner Lese-Tipp zum Anfang
1. Lob der Höhe oder Die Schweiz als Potentialgebirge
2. Ich glaub, mich knutscht ein Schmetterling oder Die Schweiz als kreatives Biotop
3. Denn die fromme Seele ahnt oder Die Schweiz als Abflughafen
4. Hemp for Victory oder Die Schweiz als Zeitkapsel
5. Noblesse oblige oder Die Schweiz als SimCountry
6. Goin´ home by Helicopter oder Die Schweiz als bewusstes Selbst
7. Spiritus Rector oder Die Schweiz als Liebesobjekt
Ein kleiner Lese-Tipp zum Anfang
Vor nicht allzu langer Zeit habe ich im erlauchten Führungskreis eines Schweizer Verlagshauses ein eigens für dieses Unternehmen geschriebenes Buch präsentiert, das sich mit der Zukunft der Kommunikation und den daraus erwachsenden Konsequenzen für diesen Verlag beschäftigte. Jenes Buch war ähnlich wie das geschrieben, das Sie gerade zu lesen begonnen haben: ungewöhnlich
Die Journalisten am Tisch hatten ihre liebe Mühe damit. Sie hatten klare Vorstellungen davon, wie so etwas geschrieben zu sein hätte, und das hat ihnen den Lesegenuss verdorben.
Anders der „grand chef“, der, aus anderen Branchen kommend, unbelastet war und sich deshalb, nach seinen eigenen Worten, einfach auf das eingelassen hat, was er da zum Lesen vorfand, sich davon hat davontragen lassen – mit dem Ergebnis, dass die Lektüre seine eigenen Gedanken beflügelte.
Und weil es natürlich genau darum geht, gibt es keinen besseren Lese-Tip als diesen: Lesen Sie die Beschreibung meines Verhältnisses zur Schweiz als Einladung, auch mal ungewöhnliche Blickwinkel und Gedankengänge auszuprobieren – um Ihre eigenen Ideen anzuregen.
Dabei wünsche ich Ihnen viel Spass und Inspiration.
Rehetobel, im Juli 1994
A.G.
Brief 1:
Lob der Höhe
oder
Die Schweiz als Potentialgebirge
Liebste
Um es gleich von Anfang an und ein für allemal klarzustellen: Du bist und bleibst eben dies, meine Liebste. Wenn im Titel dieses Buches die Wörter GELIEBTE und SCHWEIZ zusammen auftauchen, so braucht dies wenig zu bedeuten, ist doch die Schreibform in lauter Grossbuchstaben eine elegante Möglichkeit, offen zu lassen, ob der erste Buchstabe gross oder klein zu schreiben wäre…
Wie dem auch sei, (und vielleicht weiss ich es auch selber noch nicht) Länder, und seien es auch Heimatländer, sind Konstrukte und deshalb keine Konkurrenz für konkrete Geliebte. Sollte man jedenfalls meinen, auch wenn nicht weit weg von hier erschreckend viele lieber für dieses Konstrukt sterben als bei ihren Geliebten zu bleiben. So weit musste es die Schweiz gottseidank lange nicht mehr treiben, und das hat ihr Zeit gegeben, um herauszufinden, was denn einem Land wohl gelänge, hätte es die Phase dumpfen Nationalismus erst einmal ausgewachsen.
Und natürlich kann für einen erwachsenen Menschen erst dann so etwas wie eine erotische Beziehung zu einem Land entstehen, wenn dieses die wüstesten Pubertäts-Wirren durchgestanden hat. Erotik als dieses angenehme Kribbeln im Gehirn stellt sich manchmal ein, wenn ich dieses Land betrachte, nicht immer, und nicht mal immer öfter, aber ausreichend oft, um mich nie vergessen zu lassen, dass die Schweiz weiblich ist. Sie gehört zu jenen wenigen Ländern, deren Name unabdingbar mit dem weiblichen Artikel die verbunden ist, und Helvetia ist zweifelsfrei ebenfalls ein Frauenname.
Angesichts dieser Sachlage verhält es sich mit dem Verhältnis zwischen der Liebe zu einer Frau, also konkret zu Dir, und der Liebe zur Heimat Helvetia vielleicht doch etwas verzwickter. Sicher, auf der sinnlichen Ebene sind die Unterschiede aus naturgegebenen Gründen offensichtlich, doch ebenso offensichtlich ist, dass Ihr beide, Du und die Schweiz, jeweils einen beträchtlichen Teil meiner geistigen und seelischen Aufmerksamkeit bekommt.
Und weil Du Deutsche bist und Deine allfälligen Heimatgefühle damit in eine andere Richtung fliessen, sind meine Gefühls-Ströme für Dich und die Schweiz zwangsläufig nicht deckungsgleich. Oh, ich liebe diesen Unterschied, er hat mich eine Menge über die Schweiz und mein Verhältnis zu ihr (oder doch mit ihr ?) gelehrt, und Erkenntnisgewinn tut einem wachen Geist einfach per se gut. Das heisst aber auch, dass Du es bei meiner Heimatliebe mit einem Dir fremden Phänomen zu tun hast, und das Fremde beunruhigt leicht. Deshalb diese Briefe, in denen ich Dir ein bisschen klarer machen möchte, was mich an diesem Land anzieht, ja anmacht.
Zugegeben: Aus deutscher Perspektive schillert die Verbindung von Heimat mit Erotik oder gar Liebe leicht ins Lästerliche oder Lächerliche. Doch die Diskussion darüber, ob Heimatgefühle gut oder schlecht seien, ist mir zu holzhammerhaft.
Natürlich verstehe ich jene, die aus einer in der Geschichte und der Gegenwart begründeten Angst vor falsch verstandener Heimat-Liebe dieses Gefühl am liebsten ganz abschaffen würden. Auch in der Schweiz gibt es Stimmen, die lieber noch einen Schritt weiter gehen und den Begriff „Heimat“ ganz aus den Wörterbüchern tilgen würden.
Sehr realistisch ist diese Haltung allerdings nicht. Der Mensch ist nun mal ein territorial orientiertes Säugetier, und ein wesentlicher Teil seiner Identität besteht aus seiner engeren geografischen Umgebung. Heimat ist damit eine Grundkategorie menschlichen Erlebens. Es ist eine einfache Tatsache: Jede(r) braucht einen Ort, wo sie/er sich definiert. Und mit Tatsachen herumzustreiten gehört nicht zu den bevorzugten Verhaltensweisen eines Menschen, der seine geistigen Energien klug und sparsam einsetzt.
Auf der anderen Seite ist völlig klar, dass es jede Form von unästhetischer und unerfreulicher Entartung von Heimat-„Liebe“ gibt – das schöne Wort Liebe muss auch in diesem Zusammenhang für alles Mögliche als Verkleidung herhalten, das mit dem ursprünglichen Sinn nichts mehr zu tun hat. „Mord aus Liebe“ bleibt pervers, egal, ob aus Gatten- oder Vaterlands-„Liebe“.
Wir können natürlich nicht, auch wenn wir Territorial-Wesen sind, jeden mit Knüppeln totschlagen, der die Grenzen unseres Gevierts überschreitet, bloss, weil wir angeblich die Heimat lieb haben. Doch ebensowenig können wir nur wegen der Möglichkeit der Entartung leugnen, dass Heimat ein warmer Ort in unseren Gefühlsräumen ist.
Die Schweiz, dieses glückliche Land („glücklich“ im Sinne des englischen lucky – Glück haben, nicht etwa im Sinne von happy – glücklich sein…) kannte und kennt natürlich auch diverse Spielarten von entarteter Heimat-Liebe, doch mangels Masse hat sich das nie gravierend ausgewirkt, und so kann in diesem kleinen Land unbefangener als anderswo diskutiert und ausprobiert werden, wo zwischen den extremen Polen gänzlicher Leugnung solcher Gefühle und ihrer totalen Übertreibung ein gesundes, für die Betroffenen und ihre Umgebung angenehmes Fliessgleichgewicht zu finden ist.
Nur für den Fall, dass das bisher noch nicht klar genug rübergekommen ist: Ich rede hier nicht von Abstraktem, sondern von eigenen Gefühlen. Konzentriert am ohrenfälligsten in einem inneren Ohrwurm, einer Lied-Zeile aus Knabentagen: Ich bin ein Schweizer Knabe und hab die Heimat lieb !
Um die Gebote der political correctness gleich einzuhalten: Entgegen meinen ursprünglichen Befürchtungen ist diese Liedzeile nicht Ausdruck einer männlich-chauvinistischen Patriotismus-Spielart. Glücklicherweise sah ich neulich im Fernsehen ein Westschweizer Mädchen, das ebenso inbrünstig, wenn auch auf französisch, sein Heimatland Schweiz besang. Ausnahmsweise haben wir es also mal nicht mit einem geschlechtsspezifischen Phänomen zu tun, das macht die Sache etwas leichter.
Nun war ich durchaus ein aufgeweckter Knabe und habe Lieder nicht einfach so gesungen, ohne mich auch mit ihrem Text auseinanderzusetzen. Doch bei dieser Zeile gab es keine intellektuellen oder ästhetischen Einwendungen, es erschien mir vielmehr vollkommen natürlich und normal, seine Heimat liebzuhaben.
Dieses Gefühl von Selbstverständlichkeit kehrte vor einiger Zeit mit Macht zurück, wenn auch in einer eher surrealen Kulisse. Ich stand unter dem Vordach der Kirche im appenzellischen Teufen und war so vor dem Bindfadenregen geschützt, der den Bilderbuch-Dorfplatz noch blanker fegte als er schon war, falls das überhaupt noch ging. Und es war mir an diesem Tag endgültig klar geworden, dass ich nach mehr als sechs Jahren in Deutschland meine Zelte wieder in der Schweiz aufschlagen würde, wenn auch ganz im Osten, im Grenzgebiet zu Deutschland und Österreich – und damit zu Dir.
Und während darob meine Gene jubelten – schliesslich stammt mein Vater aus einer nur wenige Kilometer jenseits des Säntis liegenden Gegend – drang dieses Lied mit Macht aus den Tiefen verschütteter Erinnerungen und liess keine andere Reaktion zu als Bejahung. Was auch hiess, die unzweifelhaft vorhandenen Heimat-Gefühle als Bereicherung zu empfinden.
Das fiel mir in diesem dichten Moment der Erkenntnis umso leichter, als fast gleichzeitig eine alte Assoziation zum Thema Heimat-Liebe ebenfalls ihre starke Präsenz markierte, nämlich die Maxime Achte jeden Mannes Vaterland, das Deine aber liebe ! (Da dieser Spruch älteren Datums ist, mögen wir ihm die Chauvi-Form verzeihen.)
Hat man dieses wirksame Korrektiv zu überbordender Heimat-Liebe kapiert, kann eigentlich nicht mehr viel schief gehen. Das heisst, man kann jetzt im Vertrauen auf diesen Wächter voll ausloten, was Heimat-Liebe bedeuten und wie sie allen ein Optimum an Freude, Spass und Bereicherung bringen könnte.
Und weil wir auch in der Schweiz dieses Spiel bestenfalls gerade mal angefangen haben, bleibt viel Spielraum für offene Geister, sich auf diese Erfahrung zeit- und zukunftsgemässer Heimat-Gefühle einzulassen und sie mit anderen zu teilen. Es gibt nicht sehr viele geeignete Experimentier-Räume dazu, und es könnte eine vornehme Aufgabe der Schweiz werden, anderen ihr know how darüber, wie man mit Heimatgefühlen sinnvoll umgeht, zur Verfügung zu stellen.
Jaja, manchmal kann ich mich selber eines gelinden Schmunzelns nicht erwehren, wenn ich mir meinen eigenen Patriotismus gleichsam von aussen betrachte. Schliesslich gab es sehr wohl Zeiten, in denen eine „aufgeklärt-progressive Grundhaltung“ jeden positiven Gedanken an so etwas wie Heimat zum vornherein verbot – Grenzen jeglicher Art galten als überholtes Relikt, das dem Glück der einigen Menschheit nur im Wege stand.
Nun, aus der Rückschau klärt sich manches, und auch der Trieb, am eigenen Land keinen guten Faden zu lassen, ist meist nur der Ausdruck uneingestandener Faszination – Patriotismus ist out, also pflegt man seine Umkehrform. Manche unserer Dichter und Denker, etwa der Autor Thomas Hürlimann, sehen diesen Mechanismus mittlerweile ganz klar:
„Es ist doch so, dass sich die meisten Schweizerinnen und Schweizer sauwohl fühlen. Noch können wir die Luft atmen, das Wasser trinken, und die Regale in den Supermärkten sind gefüllt. Sonderbarerweise jedoch singt niemand das Lob dieser Zivilisation, ganz im Gegenteil, jeder Halb- oder Viertelintellektuelle jammert und stöhnt, als würde er mitten in Sibirien sitzen.“
Gemach, gemach, Herr Hürlimann, das Loblied auf die Schweizer Zivilisation folgt sogleich, singen macht Spass, und Loblieder sind nun mal hübscher als solche der Klage, jedenfalls für mich, und, wie ich schätze, nicht nur für mich.
Wenn auch anspruchsvoller. „Dieses Salongeseire“ in Sachen Schweiz, von dem Thomas Hürlimann spricht, stellt wenig geistige Ansprüche, jeder Trottel findet, wenn er nur lange genug sucht, ein Haar in der Suppe, und wenn er sich eigenhändig ein eigenes ausreissen muss. Die Suppe aber wahrheitsgemäss so zu beschreiben, dass anderen das Wasser im Mund zusammenläuft – oder gar so, dass der Koch sie das nächste Mal noch etwas besser kochen kann – das verlangt schon den ganzen Mann.
Zumal dann, wenn das Loblied einer so schillernden Dame wie Helvetia zu widmen ist. Schiller selbst, auch ein Schweiz-Faszinierter übrigens, hat für sein „Lied von der Glocke“ viele Seiten gebraucht, obwohl eine Glocke nur Bimbam macht, während in der Schweiz in vier Sprachregionen und 26 Kantonen aus sieben Millionen Kehlen ein ziemlich vielstimmiger und vielschichtiger Gesang erklingt – oft genug übrigens auch ziemlich dissonant.
Für einen Marketing-Menschen der klassischen Schule wäre deshalb die Aufgabe, die Schweiz auf den einen Punkt zu bringen, ziemlich zum Verzweifeln. Es gibt keinen USP, keine Unique Selling Proposition, also kein einzelnes dominierendes und allein überzeugendes Argument dafür, warum man gerade die Schweiz „kaufen“ solle – stattdessen gibt es eine bunte Vielfalt von sehr guten Gründen für dieses Land, selbst wenn sie so widersprüchlich erscheinen mögen wie der Rote-Kreuz-Einsatz bei Opfern von Waffen, deren Händler ihrem Geld in Genf nahe dem Sitz des Roten Kreuzes eine spezielle Form von Reinigung zukommen lassen.
Was sagte der Schweizer Botschafter in China neulich auf die Reporterfrage, wie die Chinesen höchst kapitalistisches Wirtschaften mit einem kommunistischen politischen System unter einen Hut brächten ? Die chinesische Kultur sei es eben gewohnt, mit Widersprüchen umzugehen. Wohl einem Land, das solche Botschafter hat ! Auch die Schweiz hat Erfahrungen im Umgang mit Widersprüchen, und diese Denkweise ist zweifellos eine gute Mitgift für die Zukunft.
Das ist es übrigens, was ich mit dem schönen, wenn auch etwas rätselhaften Begriff Potential im Titel dieses Briefes meine. Ein Potential ist ganz einfach eine Möglichkeit, etwas, was sein kann, aber nicht muss. Oder besser: was werden kann. Potentiale sind Entwicklungs-Möglichkeiten, und dass die Schweiz davon so viele hat, fasziniert mich an diesem Land.
Bleiben wir noch einen Moment bei den Potentialen, Liebste. Darüber habe ich schliesslich bei und mit Dir eine Menge gelernt, nicht nur in Deinem Garten, aber da auch. Da gibt es doch in einer kleinen Blumenrabatte zwei ziemlich mickrige Rosensträuche. Aus irgendwelchen Gründen blieben sie lange verkümmert. Das hätte nun Anlass zu ebenso end- wie fruchtlosen Debatten über Ursachen, Gründe und Schuldige des Debakels führen können.
Mich dagegen interessierten jedesmal, wenn ich mir die beiden Kümmerlinge betrachtete, einzig ihre Potentiale. Beim einen Rosenstock war, nach einer kurzen Phase der Hoffnung, bald einmal Fehlanzeige: Dürr und vertrocknet bleibt dürr und vertrocknet, Potentialgehalt Null. Sein Kollege dagegen ist ein schönes Beispiel für Potentiale. Aus den scheinbar ebenfalls vertrockneten Zweigen begann er wieder, kleine Blätter zu treiben. Genug, um im kümmerlichen Winzling das Potential eines blühenden Rosenstrauchs zu sehen und zu spüren.
Ganz ähnlich sehe ich die Potentiale der Schweiz. Manche sind ziemlich offensichtlich, andere blühen mehr im Verborgenen. Sie zu sehen ist einzig eine Frage des richtigen Blicks. Klar, man kann die gleiche Energie auch dazu verschwenden, das Negative oder einfach nur Lächerliche aufzuspüren. Bloss, was hat man davon ? Potentiale zu entdecken heisst dagegen, Chancen für die Zukunft zu eröffnen, und das macht – für mich jedenfalls – einfach mehr Sinn.
Schön und gut, doch was ist nun ein Potential-Gebirge, und was hat das mit der Schweiz zu tun ? Nun, um ganz ehrlich zu sein, was das Wort im ursprünglichen Gebrauch genau meint, könnte ich Dir auch nicht erklären, nicht nur wegen Deines fehlenden Mathematik-Verständnisses, sondern auch wegen meines. „Potentialgebirge“ ist nämlich ein Begriff aus der fraktalen Geometrie, der nichtlinearen Mathematik. Ich habe ihn in einem Kalender mit Computerbildern entdeckt, der den Titel Kunst und Chaos – Fraktale und die wunderbare Welt der neuen Mathematik trägt. Er hängt in meinem Büro neben dem Fenster, so dass mein Blick ohne Aufwand zwischen diesen seltsamen Fraktalbildern und dem Säntis hin- und herschweifen kann.
Und in diesem August 93 sind die Ähnlichkeiten kaum zu übersehen. Hier der wirkliche Berg, der aber oft über einer Dunst-Decke wie zu schweben scheint, da ein Bild umgesetzt aus den Ergebnissen vieler, vieler Rechenschritte, das ebenfalls einen Berg zeigt. Er ragt steil aus einer Ebene empor, in den Flanken zerklüftet wie jeder reale Berg. Oben bildet er eine flache Hochebene, zusammengesetzt aus gezackten Flächen, die an die Stücke eines ziemlich schwierigen Puzzles erinnern.
Entfernt übrigens auch an die Umrisse der Schweiz auf einer Landkarte. Ich hatte schon immer den Verdacht, die Schweiz sei ein sehr fraktales Gebilde. Wenn man etwa die Umrisse des Kantons Graubünden betrachtet, fällt auf, dass sie im Kleinen den Umrissen der ganzen Schweiz ähnlich sehen, so wie in fraktalen Bildern immer wieder ähnliche, wenn auch nie identische Bilder auftauchen, wenn man den Vergrösserungs-Masstab verändert.
Von Fraktalen und Chaos wollte ich eigentlich gar nicht reden, aber jetzt bin ich doch wieder bei diesem faszinierenden Thema gelandet, wobei Du nicht zu befürchten brauchst, ich wollte jetzt wirklich in die entsprechenden wissenschaftlichen Theorien einsteigen. Es ist nur so, dass wir hier ganz offensichtlich einem massiven Wandel des vorherrschenden Denkstils in seinen Anfängen zusehen können. Noch ist längst nichts ausgereift, aber ein paar wesentliche Eigenschaften dieses neuen Denkens sind schon sichtbar, und sie sind spannend und anregend genug.
Für mich zum Betörendsten gehört, dass unser Denken endlich daran ist, gleichsam die Möglichkeiten der Fotografie um jene des Films zu erweitern. Nicht mehr die Frage, wie etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt ist, steht im Zentrum des Interesses, sondern wie etwas wird, wie es sich entwickelt. Womit wir schon wieder bei den Potentialen wären…
Jedenfalls steht unter diesem Kalenderbild Potentialgebirge des Iterierten-Funktionen- Systems einer Drachenkurve. Keine Ahnung, was das im einzelnen bedeutet, aber das Bild erinnert mich nicht nur stark an die Schweiz, es ist auch einfach schön und stark. Im Inneren des Potentialgebirges sieht es durch die Farbgebung der Mathematiker übrigens so aus, als ob ein energiereiches Feuer glühe, und das scheint mir ein gutes Omen für die Schweiz.
Nun ist es, wenn wir ein Wort wie Potentialgebirge mal einfach als sprachliches Spielmaterial verwenden, natürlich offenkundig, dass darin ein Widerspruch steckt. Nur was lebt, hat Entwicklungs-Potentiale, wie man bei unseren Rosenstöcken sah, und ein Berg ist doch massig, starr und damit tot.
Man sieht an diesem Exempel sehr schön, dass Widersprüche oft genug nichts anderes sind als das Produkt von Kurzsichtigkeit. Kaum variieren wir nämlich unsere übliche Zeitperspektive etwas ins Grosszügige, schon sehen wir, dass auch ein Gebirge sich entwickelt und folglich Potentiale hat. Schliesslich war dieser prächtig aufragende Berg vor meinem Fenster vor nicht allzulanger Zeit ein langweilig flacher Meeresboden – jedenfalls dann, wenn man als Vergleichsmasstab das ganze ehrwürdige Alter dieses Planeten heranzieht.
Dieser unser Meeresboden hatte eines Tages keinen Platz mehr, und so tat er das, was etliche Zeit später New York tat: Er wuchs in die Höhe. Und spätestens jetzt wird der Vergleich mit der Schweiz stimmig. Denn das ist eines ihrer grössten und keineswegs voll entwickelten Potentiale: ihre vertikale Dimension.
Schlichter gesagt ihre Berge. Natürlich, darauf, diese touristisch zu nutzen, ist man in der Schweiz sehr schnell gekommen – nachdem es die Engländer vorgemacht hatten. Aber lies mal, wie sehr das Gebirge auch als starkes Symbol für geistige Welten herhalten kann:
Es gleicht der hochgestreckten Faust,
die voller Kraft zur Wahrheit stösst,
vom Sturm wird das Gewölk zerzaust,
bis sich der Himmel rein entblösst.
Es gleicht der ungeheuren Kraft,
die Taten, Fortschritt, Klarheit schafft.
Nun, dieser hübsche Fund, der meine These vom erotischen Verhältnis zur Vertikalen sicher untermauert, stammt aus einem kleinen Büchlein Das Schönste in der Schweiz, übrigens eines deutschen Verlegers, und ist dem Matterhorn gewidmet, passt aber auch wunderbar zum Potentialgebirge Schweiz. Oder etwa nicht ? Langes Training im etwas freieren Umgang mit Dingen und Ideen kommt der Schweiz hier jedenfalls sehr zupass.
Du weisst, dass ich nichts gegen die Horizontale habe. Doch hierzulande enthüllt sich der Reiz der Vertikalen in seiner vollen Pracht. Das sieht man an hübschen Müsterchen aus der Statistik: Die Schweiz hat weltweit die höchste Dichte an Fessel- und Heissluft-Ballons.
Doch am besten erlebt man den Reiz der Vertikalen nach meiner Erfahrung immer noch zu Fuss. Und so bin ich gestern Nachmittag zwecks praktischer Erprobung vertikaler Reize auf meinen kleinen Hausberg gestiegen: Du weisst, dass ich aus meinem an einen ziemlich steilen Hang gebauten Domizil am Dorfausgang nur über die Strasse zu gehen brauche, um steil in die Höhe steigen zu können. Ein schmaler Pfad führt durch Wald und Wiese aufwärts, 170 Höhenmeter ungefähr, gerade richtig für einen kleinen Spaziergang mit einer Meditation über die Schweiz und die dritte Dimension. Und so stapfe ich bergauf, die Hände auf dem Rücken, wie weiland der Philosoph Kant durch Königsberg, und mache mir so meine Gedanken.
Ein erster: In die Höhe zu steigen kommt einem Gang durch die Schichten der Zeit gleich. An ein paar Stellen kommt nackter Fels ans Tageslicht. Es wird Schicht für Schicht sichtbar, wie sich in Urmeeren totes Material am Grund abgelagert hat, und wie es später durch ungeheuren Druck gefaltet wurde wie ein Stück Papier, nur viel langsamer.
Lange Zeit müssen auch die unscheinbaren Bäche gebraucht haben, um aus flachen Hochebenen eine Hügellandschaft mit tief eingeschnittenen Tälern zu formen. Spuren frischer kleiner Erdrutsche sind Zeugen dafür, dass dieser Prozess noch längst nicht zu Ende ist. Überall hier ist Geologie spürbar, die lebendige, elementare formende Kraft der Erde.
Der Wald hält eine verschwenderische Himbeeren- und Brombeeren-Pracht feil. Ich kann der Verlockung nicht widerstehen. Zu nahe sind im Familien-Stammbaum die Erinnerungen an Zeiten, in denen das Pflücken von Beeren beim Überleben half, direkt als Nahrung, oder, wie in den Jugendzeiten meines Vaters, als Handelsgut für die eben entstehende Hotellerie. Und wer weiss, vielleicht sind jene frühen Menschen, deren Spuren man in der Nähe, beim Wildkirchli gefunden hat, in der Zwischeneiszeit vor etlichen zehntausend Jahren auch schon hier durch die Wälder gestreift und haben Beeren gepflückt.
Viel später kamen die Roder und Siedler und mit ihnen die Weidewirtschaft. Sie hat sich bis heute erhalten. Schafe, Ziegen und Kühe kreuzen meinen Weg und schauen mir tief in die Augen, wobei unklar ist, wer sich mehr über wen wundert. Die Wurzeln der heutigen Weidewirtschaft sind deutlich noch zu sehen, auch wenn sich darüber Wohlstand ausgebreitet hat. Auf der anderen Seite des Hügels habe ich neulich eine ausrangierte Transportseilbahn gesehen, die vom Tal hinauf zu einem abgelegenen Hof führte. Heute ist sie ausser Betrieb, weil es bis hinauf ein asphaltiertes Strässchen gibt.
Natürlich ist das Finanzierungssystem für solchen Luxus in der Schweiz noch absurder als anderswo. Doch was soll´s. Immerhin haben dadurch auch die Bauern in diesen bergigen Gegenden den Anschluss an ein schnell reich gewordenes Land nicht verpasst. Die Härten ihres Lebens sind dadurch nicht eliminiert, nur abgefedert. Und mir ermöglicht es einen direkten Kontakt zu einem Stück lebendiger Geschichte.
Du mit Deinem sensiblen Gespür für Sprache merkst sofort, wie nahe an den Kitsch solche Sätze gebaut sind – und weisst, weil Du so manche Schweizer Landschaft kennst, gleichzeitig auch, dass noch mehr im Spiel sein muss. Sicher, Deine Tochter hat ganz richtig bemerkt, die Landschaft, die mir beim Höhersteigen jetzt mehr und mehr ins Blickfeld gerät, sähe genauso aus, wie man die Landschaft einer Modell-Eisenbahn gestalten würde. Oder, im Klartext, einer Spielzeug- Eisenbahn. Niedlich-putzig eben, ein einziges Klischee. Kitsch. Heidiland.
Das ist, Du spürst es wohl, uns Schweizern etwas peinlich. Es gibt Umfragedaten zur Frage, wie Bevölkerung und Wirtschafts-Führer die Schweiz der Zukunft gerne sähen. „Heidiland“ war ein Vorschlag. Er stiess auf wenig Gegenliebe. Klar doch: Kitsch ist, was man heimlich liebt. Ansonsten schafft es Peinlichkeit, in einer Bilderbuch-Landschaft zu wohnen.
Peinlichkeit übrigens, nicht wirkliche Pein. Die angenehmen Seiten des Lebens in einer solchen Landschaft sind zu offensichtlich: Sie labt Augen und Seelen. Und deshalb beschliesse ich, von der Peinlichkeit Abschied zu nehmen. Das wird nicht ganz leicht sein, zu tief sitzen diese verworrenen Gefühle dem eigenen Land gegenüber, die ungefragt Teil meines geistigen Erbes sind, eines Erbes, das man nicht ausschlagen kann, wenn man hier geboren und aufgewachsen ist. Immerhin brauche ich dieses Erbe auch nicht mehr zu leugnen, entwickle je länger je mehr eine heitere Gelassenheit auch den skurileren Aspekten gegenüber, und kann mittlerweile behaupten, nichts Schweizerisches sei mir fremd.
Ich nähere mich dem Gipfel, und die düsteren Wolken lichten sich ebenso wie meine Gedanken. Zu schön ist die Rund-Sicht von hier oben, panoramamässig schweift der Blick im Kreis und schafft Über-Blick. Von keinem Platz in der Ebene aus sieht man so viele Einzelheiten und Muster. Fast den ganzen Bodensee. Die Städte der Ebene. Die Hügel mit ihrem reizvollen Wechselspiel von Wäldern und Wiesen, Einzelhöfen und kleinen Dörfern. Alles vergleichsweise jung, die Besiedlung dieser Gegend liegt erst ein paar hundert Jahre zurück. Davor gab es hier nur endlose Wälder.
Hoch-Stimmung auf dem Gipfel, dem Ort, wo es nicht mehr weiter aufwärts geht. Nur die Gedanken schweifen weiter hinauf Richtung Himmel, ganz natürlich an diesem Platz, an dem Erde und Himmel in elementarer Verbindung zusammenkommen. Es sind inspirierende Orte, an denen sich solcherart zwei Elemente begegnen – jenen am Ufer des Sees bei Dir kennst Du ja auch. Und so steige ich oft hier herauf, um auch geistig den Überblick zu bekommen und mich anregen zu lassen.
Meine Aufmerksamkeit kehrt zur Umgebung zurück und ich realisiere, dass ich mehr sehe als eine ideale Postkartenlandschaft. Ich sehe einen Mythos.
Daran warst natürlich wieder mal Du „schuld“. Genauer Deine Tochter, die Dich neulich in meiner Hörweite gefragt hat, was ein Mythos sei, und Du, etwas in Eile, meintest, so was ähnliches wie eine Legende. Jetzt nehme ich diesen Faden auf und spinne ihn weiter.
Ja, auch die meisten Mythen stammen aus grauen Vorzeiten. Aber sie sind mehr als einfach alte Geschichten, als Legenden, die man sich erzählt, vielleicht auch ganz interessant findet, dann aber doch achselzuckend danach fragt, was sie bitte schön mit einem selbst zu tun hätten. Ein Mythos dagegen berührt, weckt Kräfte, wirkt auch in die Zukunft.
Heidiland ist ein solcher Mythos. Ja, ich fand es auch eher setltsam, dass der Kurdirektor von St. Moritz ziemlich grosszügig mit den geografischen Details umging und Heidiland flugs ins Oberengadin verlegte. Heute bin ich viel milder gestimmt, nicht nur, weil ich besagten Kurdirektor jetzt persönlich kenne, sondern weil ich einen Sinn für den Wert von Mythen entwickelt habe.
Selbigen Tags eine Reportage im „Tages-Anzeiger“ über Touristen aus dem fernen Südkorea. Sie hatten nur einen winzigen Tag für die Schweiz auf ihrem Europa-Kurztrip, waren auf dem Titlis. Ein Vater mit seiner neunjährigen Tochter strahlend im Bild: „Wie glücklich bin ich, ihr das Land, aus dem Heidi kommt, gezeigt haben zu können.“ Der Heidi-Mythos lebt weltweit.
Auch der von der Luzerner Kapellbrücke, wie sich weltweit in den Reaktionen auf deren jähes Ende durch Feuersbrunst samt Wieder-erstehung gezeigt hat. Helvetia, die Mythen-Gebärende und Mythen-Ernährende. Nicht nur in Form von Landschaften und Alphörnern.
Unterhalb des Hügels, auf dem ich stehe, liegt Heiden. Dort starb einst, verarmt und einsam, Henri Dunant, Gründer des Roten Kreuzes. Visionäre hatten es hier auch nicht leichter als anderswo, und doch hat es dieser Mann geschafft, aus einer Vision einen weiteren Schweizer Mythos zu schaffen.
Bis heute ist das Rote Kreuz stark schweizerisch geprägt. Wohl gibt es in vielen Ländern nationale Gesellschaften des Roten Kreuzes oder Halbmonds. Die ursprüngliche Aufgabe des Roten Kreuzes, nämlich die Erleichterung des Loses von Kriegs-Betroffenen, wird jedoch nicht von diesen, sondern vom IKRK, dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, wahrgenommen. In dessen Rat sitzen ausschliesslich SchweizerInnen, und die etliche Tausend IKRK-Delegierten hatten bis heute ebenfalls ausschliesslich einen Schweizer Pass. Das soll sich jetzt ändern, wird jedoch nichts an der traditionell starken schweizerischen Prägung des IKRK ändern.
All diese spannenden Fakten stehen gleichtags ebenfalls im „Tagi“ – und mit ihm ein Gespräch mit meinem alten Schulfreund A., der schon lange IKRK-Delegierter ist und alle Seiten dieser Mission kennt. Beseitigen können sie keine Kriegs-Not, nur lindern. Doch das ist viel mehr als gar nichts. Aus einer Vision ist praktische Hilfe geworden.
Dass das Rote Kreuz in Genf gegründet wurde, mag Zufall gewesen sein. Mehr als das ist sicher die spätere enge Verbindung zwischen IKRK und der Schweiz. Nirgendwo sonst ist die Idee der Neutralität – unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Tätigkeit des Roten Kreuzes – so sehr gehegt und gepflegt worden wie in der Schweiz. Sicher, in der Zwischenzeit hat sich die konkrete staatliche Neutralität zwangsläufig weiterentwickelt und ist nicht mehr identisch mit jener des IKRK, doch gibt es eine Etage tiefer immer noch einen gemeinsamen kulturellen Nährboden für die Idee der Neutralität. Die Bande zwischen IKRK und dem Staat Schweiz mögen sich lockern, doch die Schweiz wird ein zentrales Element des Mythos vom Roten Kreuz bleiben.
Das gilt, wenn wir die hehren Höhen hochwohllöblicher Humanität verlassen, auch für die schon erwähnte dunklere Kehrseite des Neutralitäts-Mythos, für die Geldwäscherei nämlich. Auch diese gründet auf einem wohlbegründeten schweizerischen Mythos, nämlich des absolut neutralen, sprich in diesem Fall diskreten Umgangs mit Geldern aller Art.
Dieser unappetitliche Mythos hat die lichteren Aspekte des Schweiz-Mythos in letzter Zeit überlagert, im Ausland ebenso wie in der Schweiz selber – Jean Ziegler lässt grüssen. Persönlich empfehle ich im Umgang mit allen Schweizerischen Mythen nicht nur Gelassenheit, sondern auch ein Stück Differenzierung. Natürlich finde auch ich es untragbar, offenkundige Gauner dadurch zu unterstützen, dass man ihre verbrecherisch erworbenen Gelder weiss wäscht. Doch zwischen Verbrechen und hochmoralischem Gelderwerb liegen weite Grauzonen, jedenfalls in einer typisch schweizerischen, nämlich nüchtern-realistischen Sichtweise. Graue Gelder haben einen organischen Drang nach Aufhellung, nach Säuberung, und da Sauberkeit ein weiterer Schweizerischer Mythos ist, liegt es einigermassen nahe, dass diese Energie zur allseitigen Befriedigung genutzt wird.
Schweizerische Grosszügigkeit in Grauzonen als Legitimation von Geldwäscherei – das mag zynisch klingen. Lassen wir die Frage offen (auch das eine Schweizerische Lieblingsbeschäftigung), und verweisen wir nur auf die Müllabfuhr: Wir können sie unappetitlich finden und dennoch Respekt vor jenen haben, die diesen Job tun, weil er schliesslich getan werden muss.
Du siehst, auch da oben trage ich nicht einfach eine rosarote Brille, wenn ich die Schweiz betrachte, die im übrigen ja nur einen Teil meines Gesichtsfeldes ausfüllt. Schliesslich gehören zur Aussicht auch grössere Teile von Deutschland und Österreich. Oder von Baden, Würtemberg, Bayern und Voralberg, wie es noch heute auf der Ortstafel des Fünfländerblicks heisst, nicht weit von hier. Was daran erinnert, dass die Definition eines Landes immer Ansichtssache ist und sich wandeln kann.
Wieder geht der Blick zurück zur Schweiz und zur Frage, ob Schweizerische Mythen eigentlich unbedingt tief in der Vergangenheit wurzeln müssen. Irgendwann mal müssen auch diese Mythen einen Anfang gehabt haben, und dann müsste es auch heute noch möglich sein, in diesem Land neue Mythen zu schaffen.
Es geht. Ich bin gerade dabei, es zu erleben, und Du wirst in diesen Briefen immer wieder mal Zeuge davon werden, dass die Schweiz ein lebendiger Mythos ist und ihrem ohnehin schon bunten Mythen-Strauss immer wieder neue Blüten hinzufügen kann. Ich rede vom Mythos der offenen, innovativen und selbstbewussten Schweiz. Entstehung und Wachstum dieses Mythos konnte und kann ich als teilnehmender Beobachter verfolgen – eine Rolle, die mir viel Freude macht.
Im Grunde mache ich dabei nur öffentlich das, was ich privat ohnehin tue – zum Beispiel jetzt gerade Dir gegenüber. Nämlich die Schweiz verkaufen. Natürlich nicht wirklich, sie gehört mir ja nicht, sondern mehr als Agent, der um Sympathien für die Schweiz wirbt, für einen offenen und konstruktiven Blick auf ihre Talente und Potentiale. Bei ihr, der Schweiz selbst, braucht es am meisten davon. Dabei hat sie allen Grund, selbstbewusst zu sein. Sie weiss es nur nicht immer.
Dem abzuhelfen und gleichzeitig den Keim für einen Mythos von der selbstbewussten Schweiz zu legen – das war eine typisch Schweizerisch-unbescheidene Herausforderung. Mein lieber Freund E. und ich haben intuitiv gespürt, dass sich hier ein kraftvoller, zeitgemässer und zukunftsgewandter Mythos entwickeln könnte. Und so haben wir es angepackt.
Dabei hatten wir beide mehr als gelinde Zweifel daran, ob unsere Intuition richtig war. Erweisen sollte sich das in dem Moment, als wir den Mythos mit anderen zu teilen begannen. Denn wenn ein Mythos wirklich Kraft und Energien freisetzen soll, muss er von vielen geteilt werden. Und das wiederum kann er nur, wenn viel Leben in ihm steckt.
Beim Mythos von der selbstbewussten, und das heisst, wie wir bald immer hinzufügten, auch offenen und innovativen Schweiz, war und ist das offensichtlich der Fall. Immerhin haben wir sehr schnell nicht nur viel Wohlwollen und moralische Unterstützung dafür gefunden, sondern auch eine beachtliche Reihe von zu recht angesehenen Unternehmen und Institutionen, die unsere Idee als Sponsoring-Partner auch materiell unterstützen, gut schweizerisch nach dem Prinzip von Treu und Glauben in die Zukunft der Schweiz.
Falls es Dich übrigens stören sollte, dass ich Grundsätze wie Treu und Glauben ganz selbstverständlich für die Schweiz reklamiere, hast Du natürlich recht: Diese Grundsätze gedeihen auch anderswo. Und doch muss es an der Ausstrahlung der Schweiz etwas geben, das diese Eigenschaften besonders betont. Es sind zweifellos nur Nuancen, doch in Zeiten wie diesen kommt es gerade auf die Nuancen an. Der Schweiz vertraut man ein kleines bisschen mehr als anderen etwas zu treuen Händen an – und dieser winzige Vorsprung kann entscheidend sein.
Du kennst die Aktion, die wir zusammen mit der „Schweizer Illustrierten“ durchgeführt haben: Wir liessen die LeserInnen darüber abstimmen, wer die Hauptrollen in einem (vorderhand nur in der Phantasie existierenden) Film namens DIE SELBSTBEWUSSTE SCHWEIZ übernehmen solle. Dabei belegte ein in der Schweiz ziemlich bekannter Schauspieler namens Walter Roderer den fünften Platz. Noch vor ein paar Jahren wäre er sicher noch weiter vorn plaziert gewesen, in der Zwischenzeit hat ihm ein eher seltsames Engagement gegen den EWR-Beitritt sicher einige Sympathien gekostet.
Warum ich Dir das erzähle ?, möchtest Du sicher wissen, wir waren doch gerade bei den treuhänderischen Qualitäten der Schweiz. Und da kommen wir auch wieder hin. Und zwar über einen Roderer-Film aus dem Jahr 1988, der jüngst am Schweizer Fernsehen gezeigt wurde: Ein Schweizer namens Nötzli. Eigentlich hatte ich erst gar keine Lust darauf, was soll die xte Präsentation eines unfreiwillig komischen Schweizers, und überhaupt, den Roderer mag ich aus politischen Gründen nicht mehr…
Quatsch, sagte ich mir dann, schliesslich hat meine geliebte Schweiz als Ganzes wie Herr Roderer Nein gesagt, und wenn eine Geliebte sich entschieden hat, ist es besser, daraus das Beste zu machen statt an ihr rumzumachen. Habe ich mit Dir gelernt…
Ich habe meinen Entscheid nicht bereut, im Gegenteil. Die Story ist kurz erzählt: Biederer und zuverlässiger Schweizer Buchhalter arbeitet seit vielen Jahren treu für ein Chemie-Unternehmen in Berlin. Eines Tages wird er durch eine Verwechslung nach oben katapultiert, bewährt sich aber als Direktor bestens. Als die Sache auffliegt, wird er gefeuert, doch schliesslich braucht man ihn wegen seiner Qualitäten und holt ihn zurück.
Das alles wird satirisch dick aufgetragen als typische Schweizer Qualitätsmischung verkauft. Herr Nötzli ist eben sowohl präziser und zuverlässiger Buchhalter als auch innovativer Unternehmensleiter. Wie im Gleichnis von den anvertrauten Talenten verprasst er das ihm anvertraute Gut nicht, noch verbuddelt er es einfach. Stattdessen setzt er es kreativ-innovativ ein und entwickelt dabei einen erstaunlichen Weitblick.
Und noch ein hübsches Detail am Rande: Zurückgeholt wird Herr Nötzli in die Top-Etage, weil es die japanischen Geschäftspartner so wollen. Mit Nötzli verstehen sie sich bestens, der hat sogar vorausschauend schon mal als Buchhalter Japanisch gelernt. Einen so klaren Hinweis auf eine Identitäts-Marktlücke für die Schweiz hätte ich dem Roderer gar nicht zugetraut…
Ich habe nicht vergessen, wo wir vor diesem Schlenker waren: Bei den Nuancen. Um Nuancen geht es also, um kleine, aber feine Unterschiede. Niemand in diesem Land, der seinen Grips einigermassen beisammen hat, würde behaupten, die Schweiz unterschiede sich irgendwo ganz wesentlich von anderen Gegenden und Ländern. Aber gerade die Differenzierungen machen den Reiz aus, und von ihnen ist hier die Rede.
In einer Umfrage der GfM (Schweizerische Gesellschaft für Marketing) von 1993 zeigte sich, dass das Volk hierzulande dieser Ansicht ist. Der Slogan Nicht besser. Nur es bizzeli anders. Ihre Schweiz. stiess auf Gegenliebe. Vive la différence ! heisst das, aber auch Abschied von der Überheblichkeit, die bisher oft mit der Vorstellung vom „Sonderfall Schweiz“ verbunden war. Ein Sonderfall unter vielen Sonderfällen – das ist die heutige, realistischere Sicht der Schweiz von sich selbst.
Meine Sicht der Schweiz von oben geht an diesem Abend zur Neige. Noch einmal erquicke ich mein Auge mit dem satten Grün von Wiesen und Wäldern und entdecke dabei, dass grün auch das Stichwort für einen ebenfalls neuen Schweizerischen Mythos ist: In unseren wichtigsten wirtschaftlichen Partnerländern gelten Produkte aus der Schweiz bereits heute klar führend als überdurchschnittlich umweltfreundlich. Wie das kommt und warum das für die Schweiz, und nicht nur für sie, eine phantastische Nachricht ist, erzähle ich Dir im nächsten Brief.
Für diesmal habe ich genug gesehen. Beim Abstieg geniesse ich einen weiteren Reiz der Vertikale: Was ich beim Aufstieg an Mühe investiert habe, kommt jetzt als Leichtigkeit zurück: Ich brauche bei jedem Schritt nur ganz leicht mein Bein nach vorne zu schlenkern, den Rest besorgt die Schwerkraft.
Es könnte sein, dass Du in meiner Rundsichtschilderung den Säntis vermisst hast. Ich habe ihn auch vermisst, er war hinter Wolken versteckt. Und doch wusste ich ganz genau, dass er da war, schliesslich habe ich ihn oft genug gesehen. Das war nicht immer so: Bei meinem ersten Kontakt mit dem Platz hier war er da, die paar nächsten Male, als ich zu Besichtigungen oder Besprechungen vorbeikam, steckte er im Dunst – eine Möglichkeit nur, ein Potential. Und alles, was es braucht, um aus diesem Potentialgebirge Realität werden zu lassen, ist etwas Geduld und das Vertrauen, dass sich die Wolken wieder heben werden. Könnte sein, dass dieses hübsche Bild auch gut zur Schweiz als Potentialgebirge passt…
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