Zeit-Orientierung und Lebensqualität

Die Fliesszeit liegt im Trend
Dieser Text von Andreas Giger erschien in der Zeitschrift „impu!se für Gesundheitsförderung“ der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e.V. im Juni 2012. (online zugänglich unter www.gesundheit-nds.de)
Zunächst erscheint die Frage, wie sich die Menschen in der Zeit orientieren, reichlich abstrakt, höchstens geeignet als Futter für Philosophen und Philosophinnen: “Solange ich nicht darüber rede, weiß ich, was die Zeit ist, doch sobald ich darüber reden will, weiß ich es nicht mehr“ – so etwa die Erkenntnis des heiligen Augustinus.
Meine intensive Beschäftigung mit dem Leitwert Lebensqualität hatte mir jedoch mittlerweile eine neue Erkenntnis eröffnet: Lebensqualität ist auch eine Frage der passenden Orientierung in der Zeit. Als Wesen, die in Raum und Zeit leben, brauchen wir Menschen nicht nur einen für uns passenden Ort im Raum, sondern auch eine passende Orientierung im Strom der Zeit.
In zwei Umfragen im Jahr 2004 und 2011 stellte ich jeweils einigen interessierten Zeitgenossen Fragen zu diesem Thema. Und stellte zugleich grundsätzliche Überlegungen dazu an.
Während der Raum für uns stabil wirkt, wissen wir alle, dass die Zeit fließt und sich dadurch für unser Empfinden aufteilt in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Orientierung im Zeitstrom ist deshalb vor allem eine Frage der Perspektive: Woran orientieren wir uns primär, an Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft? Welche dieser Zeiten spricht uns am stärksten an? Aus welcher beziehen wir am ehesten Energie und Inspiration? Welche ist gleichsam unsere Basis-Zeit?
Von der Wahl der passenden Basis-Zeit hängt die eigene Lebensqualität entscheidend ab. „Passend“ ist dabei sowohl individuell gemeint – passt die gewählte Basis-Zeit zu meiner Persönlichkeit? – als auch kollektiv: Passt meine gewählte Basis-Zeit in den kollektiven Strom des Zeitgeistes, oder bin ich damit isoliert? Passe ich zum Beispiel mit meiner Neigung zur Entschleunigung in unsere immer hektischer werdende Zeit?
Zeit-Orientierung ist wandelbar

In den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts etwa musste sich jemand, der sich vorwiegend an der Vergangenheit orientierte, isoliert vorgekommen sein. Der vorherrschende Zeitgeist beschäftigte sich damals überwiegend mit den gleißenden Verheißungen der Zukunft. Die Neunziger waren ein Jahrzehnt der Zukunfts-Orientierung. Man sprach etwa von „New Economy“, von einer gänzlich neuen Wirtschaftsordnung – und verlor viel Geld in der Internet-Blase, an deren Ursprung glänzende Zukunftsprognosen wirkten.
Die achtziger Jahre dagegen orientierten sich vorwiegend an der Gegenwart. Lifestyle war das dominante Thema, und das wiederum hatte weder mit der Vergangenheit noch mit der Zukunft viel zu tun.
Noch einmal anders können wir die siebziger Jahre charakterisieren: Damals stand – jedenfalls im deutschsprachigen Kulturraum – die Auseinandersetzung mit den Sünden der Vergangenheit im Zentrum, und die diesen gegenübergestellten alternativen Utopien lassen sich aus der Distanz allesamt als rückwärtsgewandt erkennen. Das gilt für die „Zurück-zur-Natur-Sehnsucht“ der Hippies genau so wie für die Neigung zum Kader-Sozialismus vieler Linken. Es dominierte also in jeder Hinsicht die Orientierung an der Vergangenheit.
Aus diesem gerafften Überblick lässt sich die Erkenntnis ableiten: Zeit-Orientierung ist sehr wohl wandelbar. Die Vorlieben für eine bestimmte Basis-Zeit können sich ändern. Woraus sich für uns neugierige Zeitgenossen natürlich sofort die nächsten Fragen ergeben: Wo stehen wir heute? Und: Welche Zeit-Orientierung ist für die nächsten Jahre und Jahrzehnte zu erwarten?
Die Zeitorientierung heute und in Zukunft
Schon bald wieder vergessen ist die angebliche Zeitenwende beim Eintritt in ein neues Jahrtausend. Dabei hat sich in den letzten Jahren in den Tiefen des kollektiven Bewusstseins eine viel fundamentalere Zeiten-Wende abgespielt: Waren die neunziger Jahre noch ganz auf Zukunft eingestellt, so leben wir jetzt im Zeitalter der Gegenwart.
Die Fließzeit liegt im Trend

So wie die Zukunft als Basis-Zeit an Wert verloren hat, hat dafür die Gegenwart gewonnen. 2011 sagt die Hälfte, sie lebte heute „ganz entspannt im Hier und Jetzt“. Der Höhepunkt ist damit allerdings erreicht, in zehn Jahren wird die Gegenwart gemäß eigenen Aussagen nur noch für rund ein Drittel die Basis-Zeit sein. Vor sieben Jahren dominierte die Gegenwart noch viel klarer, der damals vorhergesagte Trend zu einer reduzierten Bedeutung der Gegenwart hat sich bestätigt.
Und irgendwann im nächsten Jahrzehnt wird sich diese Kurve mit jener der Fließzeit kreuzen: Jene, die als Basis-Zeit den „evolutionären Zeitstrom“ wählen, in dem „die Grenzen zwischen gestern, heute und morgen fließend sind“, werden dann die Mehrheit bilden. Die Kurve für die Fließzeit verläuft als einzige kontinuierlich aufwärts.
Die Gegenwart schließt heute und zukünftig Vergangenheit und Zukunft mit ein. Die Zukunft gehört der Fließzeit, erlebt als evolutionärer Zeitstrom, in dem die Grenzen zwischen gestern, heute und morgen durchlässig werden.
Im Lebensgefühl der Fließzeit lassen wir unsere Achtsamkeit für das Jetzt nicht von nostalgischen Erinnerungen trüben („früher war alles besser…“), und wir opfern die Gegenwart auch nicht der Illusion, erst in der Zukunft könnten wir glücklicher werden. Zugleich sind wir uns jederzeit unserer Wurzeln bewusst und schätzen und pflegen das in der Vergangenheit Bewährte. Und für die Zukunft sind wir, wenngleich ohne Illusionen, offen und sehen ihr mit Neugier und Freude entgegen.
Die Lebensqualität der Menschen von morgen ist eng gekoppelt mit dieser neuen Zeit-Orientierung. Wer sich in der Zeit einseitig rückwärts oder vorwärts orientiert, oder aber Herkunft und Zukunft ganz ausblendet, verliert den Kontakt zum ganzen lebendigen Strom der Zeit. Und vernachlässigt damit ein elementares Prinzip von Lebensqualität: alle Sphären und Bereiche des eigenen Lebens in Balance zu halten.
