Orientierung im Nebel

Betrachtungen über ein symbolträchtiges Naturphänomen
Alle, die Auto fahren, wissen: Orientierung im dichten Nebel ist schwierig. Ähnliches gilt für die aktuelle Weltlage: Niemand hat den Überblick, alle stochern im Nebel herum. Doch an der Nebelgrenze lässt sich lernen, wie man sich im geistigen Nebel orientieren kann.

Das schweizerische Mitteland – Hauptsiedlungsgebiet dieses kleinen, aber feinen Ländchens – bildet geografisch gesehen einen Trog. Darin bildet sich im Spätherbst und Frühwinter gerne eine Nebelschicht, die tagelang hängen bleiben kann, was in diesem Jahr besonders oft und ausgeprägt der Fall ist.
Die Obergrenze dieses Nebels liegt in der Regel bei plus/minus tausend Meter über Meer – also genau da, wo spirit.ch zu Hause ist. Über dem Nebel strahlt die Sonne dann oft von einem wolkenlos blauen Himmel, doch kaum taucht man unter die Grenze, wird alles grau und konturenlos, und das Fahren auf Sicht wird zu einer mühseligen (und potenziell gefährlichen) Angelegenheit.

Es gibt in diesen Tagen also eine eigentliche Klassengesellschaft: Wir da oben – ihr da unten (oder umgekehrt, je nach Perspektive…). Die Gründer und Betreiber von spirit.ch gehören in diesem Fall zu den wenigen Glücklichen da oben, der grosse Rest da unten sitzt in der grauen Suppe und bläst Trübsal.
Was für ein hübsches Bild für den Zustand unserer Welt, wo die Unterschiede zwischen unten und oben so krass sind (und immer mehr werden) wie jene zwischen Gegenden mit strahlender Sonne und solchen mit trübseligem Grau.

Wenn es allerdings um die Frage geht, wie man diesen Zustand ändern könnte, stochern alle im Nebel, niemand lebt über der geistigen Nebelgrenze. Dasselbe gilt für alle anderen Krisen und Herausforderungen unserer Zeit. Die sich häufenden Finanzkrisen zum Beispiel wirken ja vor allem deshalb so bedrohlich, weil ganz offensichtlich niemand mehr wirklich versteht, was da abläuft, weshalb auch niemand ein taugliches Rezept zur Krisenbekämpfung hat.
Und selbst auf der persönlichen Ebene spüren wir, dass es immer schwieriger wird, die Komplexität unserer Lebensumstände zu durchschauen. Auch bei unserer Lebensgestaltung fahren wir zunehmend auf Sicht durch dichten Nebel.
Geistig gesehen, so macht es den Anschein, leben wir alle unter der Nebelgrenze im orientierungslosen Grau. Und tatsächlich gehört es zu den Herausforderungen unserer Zeit, dass wir uns mit einer guten Portion Bescheidenheit, ja Demut, ausrüsten und akzeptieren, dass in einer komplexen Welt niemand den totalen Durchblick haben kann. Unsere Erkenntnismöglichkeiten sind nun mal beschränkt, sie gleichen realistischerweise wirklich dem Fahren im Nebel.
Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Der andere besteht in unserer Lernfähigkeit. Wir können Fähigkeiten wie Durch-, Über- und Weitblick lernen. Wir werden solche Ziele nie im absoluten Sinne erreichen, aber wir können uns ihnen mehr und mehr annähern, im Sinne eines geistigen Reifungsprozesses.

Heut zu Tage kann sicher jedermann im Unterland dank Webcams versichern, dass über dem Nebel die Sonne scheint – was die Sache nicht unbedingt einfacher macht, wenn man keine Möglichkeit hat, in die Höhe zu steigen. Wer allerdings unbedingt die Klarheit des Raums erleben will, findet zwischenrein immer eine Gelegenheit, die Nebelsuppe unter sich zu lassen.
Vor vielen Jahren, als es noch keine Webcams gab, war ich eines Samstagmorgens schon im Abstieg von einer Berghütte, als mir viele Bergwanderer entgegen kamen, die im Aufstieg waren – durch dichtesten Nebel. Ich habe selten so strahlende Gesichter gesehen wie in den Momenten, als ich den Aufsteigenden versichern konnte, sie kämen bald in die Sonne…
Ähnliches wissen auch geistige Bergsteiger zu berichten, die sich zwischenrein immer wieder mal die Zeit und Musse gönnen, um in jene Höhen hinaufzusteigen, von denen aus man einen weiten Überblick geniesst, weit über dem die klare Sicht behindernden Nebel. Niemand gewinnt da oben einen totalen und auf ewig gültigen Weitblick, und doch helfen solche Momente der Reflexion, sich in der Welt und vor allem im eigenen Leben ein bisschen besser orientieren zu können.

Wir sind geistige Wanderer wischen den Welten, mal im dichten Nebel, mal in klarer Höhenluft. Nirgends wird das so deutlich wie an der Nebelgrenze, wo eben noch klare Sicht herrschte, nur um fünf Minuten später von wallenden Nebelschwaden eingehüllt zu werden.
Das Auf und Ab der meteorologischen Nebelgrenze können wir nicht beeinflussen. Sich geistig gelegentlich über die Nebelgrenze hinaus zu schwingen, liegt sehr wohl in unseren Möglichkeiten…
