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Von Thailand und anderen Abenteuern

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Alte Vision – neues Leben?

Der folgende Text stammt aus dem Jahr 1999, also aus der Frühzeit des digitalen Zeitalters, und löste damals kaum Reaktionen aus. Vielleicht kam die darin enthaltene Vision einfach zu früh? Wir sind gespannt auf Ihre Meinung, die Sie am Schluss des Beitrags äussern können.

Das Kastalien, das Hermann Hesse in seinem Spätwerk „Das Glasperlenspiel“ schildert, wurde sicher inspiriert von seinem Gastland Schweiz, reicht aber weit über deren Landesgrenzen hinaus. Insofern passt die Idee wunderbar in unser Dossier Schweiz…

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Kastalien II

Hesses Glasperlenspiel als Modell einer virtuellen Gemeinschaft – eine Vision

 

Kastalien I

In Kastalien spielt der letzte grosse Roman von Hermann Hesse, das Glasperlenspiel, erschienen 1943 (!). Kastalien ist jener stillste und heiterste Bezirks unsres gebirgigen Landes, den man früher mit einem Ausdruck des Dichters Goethe oft auch „die pädagogische Provinz“ genannt hat. Der Roman spielt in einer nicht näher definierten Zukunft, nach dem „feuilletonistischen Zeitalter“, einer wunderbar prophetischen Vorwegnahme unserer heutigen postmodernen Beliebigkeit. Als Gegenreaktion ist eine neue Zucht des Geistes entstanden, und gepflegt wird diese in der dafür spezialisierten pädagogischen Provinz Kastalien.

In Kastalien werden alle geistigen Disziplinen auf höchsten Niveau betrieben und gepflegt. Der wichtigste „Wirtschaftszweig“ von Kastalien sind seine Eliteschulen, sein wichtigster „Exportartikel“ sind Lehrer aller Art. Organisiert ist das Ganze ziemlich altmodisch hierarchisch: An der Spitze Kastaliens steht eine Erziehungsbehörde, die aufgebaut ist wie ein kirchlicher Orden – inklusive Verzicht auf weltliche Güter und Statussymbole.

 

Das Glasperlenspiel

Bis dahin ist Hesses Vision einer pädagogischen Provinz nicht besonders originell: Dass Geistesleben auf höchstem Niveau in der Provinz besser gedeiht als in der Großstadt, zeigen fast alle Eliteuniversitäten dieser Welt. Doch neben Eliteschulen und Lehrerausbildung hat Kastalien noch eine ganz besondere Spezialität auf seiner geistigen Speisekarte: das Glasperlenspiel.

Nun gibt das Glasperlenspiel zwar dem Roman seinen Namen, ist jedoch innerhalb des ganzen vielschichtigen Werks eher ein Nebenthema – im Zentrum steht eine Entwicklungsgeschichte, in der es um Autonomie und Authentizität des Individuums geht. Und so war das Glasperlenspiel selber bei meinen ersten Begegnungen mit diesem Buch ebenfalls nicht von besonderem Interesse, bis mir 1986 ein Text von Timothy Leary, dem früheren Psychologieprofessor in Harvard und späteren Propheten von LSD, planetarischer Auswanderung und Cyberspace, in die Hände fiel. Leary behauptete darin nicht weniger, als dass Hesses Glasperlenspiel die geniale Vorwegnahme der digitalen Revolution gewesen sei. (Den ganzen Text dieses Artikels finden Sie hier. Tipp: Ausdrucken und in Ruhe lesen, lohnt sich …)

Warum dieses ? Nun, aus gutem Grunde beschreibt Hesse das fiktive Glasperlenspiel nie genauer, erschöpft sich vielmehr in Andeutungen. Primär ist das Glasperlenspiel ein geistiges Assoziationsspiel, in dem Wissenspartikel aus den unterschiedlichsten Gebieten miteinander verbunden und in Beziehung gesetzt werden – mittels eines gemeinsamen Codes, einer Sprache, in der sich jede Wissenschaft (und jede Kunst) ausdrücken kann. Und dieser universale Sprachcode, in der sich alles ausdrücken und damit in Beziehung setzen lässt, ist, so Leary, heute die digitale Sprache, von der Hesse noch nichts wissen konnte.

Tatsächlich fusst genau auf der Erfindung der digitalen Sprache unsere heutige Welt von Computer, Multimedia und Internet: Jedwede Art und Form von Information lässt sich in einer Abfolge von Nullen und Einsern ausdrücken, und dank dieser universalen Sprache sind die Möglichkeiten von Kommunikation gewaltig gestiegen. Die Frage ist nur: Was machen wir mit diesen Möglichkeiten ?

Hermann Hesse hatte davon eine klare Vision, auch wenn er noch nicht ahnen konnte, wie schnell diese – im Prinzip – realisierbar werden würde. Betrachten wir uns also diese Vision etwas ausführlicher in Form von Originalzitaten.

Als erstes hier eine Zusammenfassung des Spiels:

Diese Regeln, die Zeichensprache und Grammatik des Spieles, stellen eine Art von hochentwickelter Geheimsprache dar, an welcher mehrere Wissenschaften und Künste, namentlich aber die Mathematik und die Musik (beziehungsweise Musikwissenschaft) teilhaben und welche die Inhalte und Ergebnisse nahezu aller Wissenschaften auszudrücken und zueinander in Beziehung zu setzen imstande ist. Das Glasperlenspiel ist also ein Spiel mit sämtlichen Inhalten und Werten unsrer Kultur, es spielt mit ihnen, wie etwa in den Blütezeiten der Künste ein Maler mit den Farben seiner Palette gespielt haben mag. Was die Menschheit an Erkenntnissen, hohen Gedanken und Kunstwerken in ihren schöpferischen Zeitaltern her vorgebracht, was die nachfolgenden Perioden gelehrter Betrachtung auf Begriffe gebracht und zum intellektuellen Besitz gemacht haben, dieses ganze ungeheure Material von geistigen Werten wird vom Glasperlenspieler so gespielt wie eine Orgel vom Organisten, und diese Orgel ist von einer kaum auszudenkenden Vollkommenheit, ihre Manuale und Pedale tasten den ganzen geistigen Kosmos ab, ihre Register sind beinahe unzählig, theoretisch ließe mit diesem Instrument der ganze geistige Weltinhalt sich im Spiele reproduzieren.

Dagegen ist innerhalb dieses fest stehenden Gefüges oder, um in unserem Bilde zu bleiben, innerhalb der komplizierten Mechanik dieser Riesenorgel dem einzelnen Spieler eine ganze Welt von Möglichkeiten und Kombinationen gegeben, und daß unter tausend streng durchgeführten Spielen auch nur zwei einander mehr als an der Oberfläche ähnlich seien, liegt beinahe außerhalb des Möglichen. Selbst wenn es geschähe, daß einmal zwei Spieler durch Zufall genau dieselbe kleine Auswahl von Themen zum Inhalt ihres Spieles machen sollten, könnten diese beiden Spiele je nach Denkart, Charakter, Stimmung und Virtuosität der Spieler voll kommen verschieden aussehen und verlaufen.

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Am Anfang standen Fäden…

Hier erfahren wir von den Anfängen des Spiels und wie es zu seinem Namen gekommen ist:

Das Spiel war zunächst nichts weiter als eine witzige Art von Gedächtnis- und Kombinationsübung unter den Studenten und Musikanten, und wie gesagt wurde es so wohl in England wie in Deutschland gespielt, noch ehe es hier an der Musikhochschule von Köln ´erfundenª wurde und seinen Namen erhielt, den es auch heute nach so vielen Generationen noch trägt, obwohl es seit langer Zeit mit Glasperlen nichts mehr zu tun hat. Dieser Glasperlen bediente sich der Erfinder, Bastian Perrot aus Calw, ein etwas wunderlicher, aber kluger und geselliger und menschenfreundlicher Musiktheoretiker, an Stelle von Buchstaben, Zahlen, Musiknoten oder anderer graphischer Zeichen. Perrot, der übrigens auch eine Abhandlung über ´Blüte und Verfall der Kontrapunktikª hinterlassen hat, fand im Kölner Seminar eine von den Schülern schon ziemlich weit entwickelte Spielgewohnheit vor: sie riefen einander in den abkürzenden Formeln ihrer Wissenschaft beliebige Motive oder Anfänge aus klassischen Kompositionen zu, worauf der Angerufene entweder mit der Fortsetzung des Stückes oder noch besser mit einer Ober- oder Unterstimme, einem kontrastierenden Gegenthema und so weiter zu antworten hatte.

Perrot konstruierte sich, nach dem Vorbild naiver Kugelzählapparate für Kinder, einen Rahmen mit einigen Dutzend Drähten darin, auf welchen er Glasperlen von verschiedener Größe, Form und Farbe aneinanderreihen konnte. Die Drähte entsprachen den Notenlinien, die Perlen den Notenwerten und so weiter, und so baute er aus Glasperlen musikalische Zitate oder erfundene Themata, veränderte, transponierte, entwickelte sie, wandelte sie ab und stellte ihnen andre gegenüber. Dies war, was das Technische betrifft, zwar eine Spielerei, gefiel aber den Schülern, wurde nachgeahmt und Mode, auch in England, und eine Zeitlang wurde das Musikübungsspiel auf diese primitiv-anmutige Art betrieben. Und wie so oft, hat auch hier eine langdauernde und bedeutungsvolle Einrichtung ihren Namen von einer vergänglichen Nebensache empfangen. Das, was aus jenem Seminaristenspiel und aus Perrots perlenbehängten Drähten später geworden ist, trägt noch heute den volkstümlich gewordenen Namen Glasperlenspiel .

Kaum zwei, drei Jahrzehnte später scheint das Spiel unter den Musikstudenten an Beliebtheit eingebüßt zu haben, dafür aber von den Mathematikern übernommen worden zu sein, und lange Zeit blieb das ein kennzeichnender Zug in der Geschichte des Spieles, daß es stets von derjenigen Wissenschaft bevorzugt und benutzt und weitergebildet wurde, welche jeweils eine besondere Blüte oder Renaissance erlebte. Bei den Mathematikern wurde das Spiel zu einer hohen Beweglichkeit und Sublimierungsfähigkeit gebracht und gewann schon etwas wie ein Bewußtsein seiner selbst und seiner Möglichkeiten.

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Das Glasperlensiel ist alles andere als gradlinig…

Das Glasperlenspiel haben wir uns als eine Art Denkschule vorzustellen, die in verschiedenen Märkten Anklang findet:

Das Spiel wurde von beinahe allen Wissenschaften zeitweise übernommen und nachgeahmt, das heißt auf ihr Gebiet angewendet, bezeugt ist dies für die Gebiete der klassischen Philologie und der Logik. Die analytische Betrachtung der Musikwerte hatte dazu geführt, daß man musikalische Abläufe in physikalisch-mathematische Formeln einfing. Wenig später begann die Philologie mit dieser Methode zu arbeiten und sprachliche Gebilde nach der Weise auszumessen, wie die Physik Naturvorgänge maß; es schloß die Untersuchung der bildenden Künste sich an, wo von der Architektur her die Beziehung zur Mathematik schon längst vorhanden war. Und nun entdeckte man zwischen den auf diesem Wege gewonnenen abstrakten Formeln immer neue Beziehungen, Analogien und Entsprechungen. Jede Wissenschaft, die sich des Spiels bemächtigte, schuf sich zu diesem Zweck eine Spielsprache von Formeln, Abbreviaturen und Kombinationsmöglichkeiten, überall unter der Elite der geistigen Jugend waren die Spiele mit den Formelfolgen und Formeldialogen beliebt. Das Spiel war nicht bloß Übung und nicht bloß Erholung, es war konzentriertes Selbstgefühl einer Geisteszucht, besonders die Mathematiker betrieben es mit einer zugleich asketischen und sportsmännischen Virtuosität und formalen Strenge, und fanden darin einen Genuß, der ihnen den damals schon konsequent durchgeführten Verzicht der Geistigen auf weltliche Genüsse und Bestrebungen erleichtern half.

Noch einmal erlebt die Evolution des Glasperlenspiels einen Schub:

Es war die Tat eines einzelnen, die nun das Glasperlenspiel beinahe mit einem einzigen Schritt zum Bewußtsein seiner Möglichkeiten und damit an die Schwelle der universalen Ausbildungsfähigkeit brachte, und wieder war es die Verbindung mit der Musik, welche dem Spiel diesen Fortschritt brachte. Ein Schweizer Musikgelehrter, zugleich fanatischer Liebhaber der Mathematik, gab dem Spiel eine neue Wendung und damit die Möglichkeit zur höchsten Entfaltung. Der bürgerliche Name dieses großen Mannes ist nicht mehr zu ermitteln, seine Zeit kannte den Kultus der Person auf den geistigen Gebieten schon nicht mehr, in der Geschichte lebt er als Lusor (auch: Joculator) Basiliensis fort. Seine Erfindung, wie jede Erfindung, war zwar durchaus seine persönliche Leistung und Gnade, kam aber keineswegs nur aus einem privaten Bedürfnis und Streben, sondern war von einem stärkeren Motor getrieben. Unter den Geistigen seiner Zeit war überall ein leidenschaftliches Verlangen nach einer Ausdrucksmöglichkeit für ihre neuen Denkinhalte lebendig, man sehnte sich nach Philosophie, nach Synthese, man empfand das bisherige Glück der reinen Zurückgezogenheit auf seine Disziplin als unzulänglich, da und dort durchbrach ein Gelehrter die Schranken der Fachwissenschaft und versuchte ins Allgemeine vorzustoßen, man träumte von einem neuen Alphabet, einer neuen Zeichensprache, in welcher es möglich würde, die neuen geistigen Erlebnisse festzuhalten und auszutauschen.

Seit der Großtat des Baslers nun hat das Spiel sich rasch vollends zu dem entwickelt, was es noch heute ist: zum Inbegriff des Geistigen und Musischen, zum sublimen Kult, zur Unio Mystica aller getrennten Glieder der Universitas Litterarum.


Schliesslich erhält das Glasperlenspiel auch noch eine spirituelle Komponente:

War nun das Glasperlenspiel seit seinen Anfängen an Technik und an Umfang der Stoffe ins Unendliche gewachsen und, was die geistigen Ansprüche an die Spieler betrifft, zu einer hohen Kunst und Wissenschaft geworden, so fehlte ihm in den Zeiten des Baslers doch noch etwas Wesentliches. Bis dahin nämlich war jedes Spiel ein Aneinanderreihen, Ordnen, Gruppieren und Gegeneinander stellen von konzentrierten Vorstellungen aus vielen Gebieten des Denkens und des Schönen gewesen, ein rasches Sicherinnern an überzeitliche Werte und Formen, ein virtuoser kurzer Flug durch die Reiche des Geistes. Erst wesentlich später kam allmählich aus dem geistigen Inventar des Erziehungswesens, und namentlich aus den Gewohnheiten und Bräuchen der Morgenlandfahrer, auch der Begriff der Kontemplation in das Spiel. Es hatte sich der Übelstand bemerkbar gemacht, daß Gedächtniskünstler ohne andre Tugenden virtuose und blendende Spiele spielen und die Teilnehmer durch das rasche Nacheinander zahlloser Vorstellungen verblüffen und verwirren konnten. Nun fiel allmählich dieses Virtuosentum mehr und mehr unter strenges Verbot, und die Kontemplation wurde zu einem sehr wichtigen Bestandteil des Spieles, ja sie wurde für die Zuschauer und Zuhörer jedes Spieles zur Hauptsache. Es war dies die Wendung gegen das Religiöse. Es kam nicht mehr allein darauf an, den Ideenfolgen und dem ganzen geistigen Mosaik eines Spieles mit rascher Aufmerksamkeit und geübtem Gedächtnis intellektuell zu folgen, sondern es entstand die Forderung nach einer tieferen und seelischeren Hingabe. Nach jedem Zeichen nämlich, das der jeweilige Spielleiter beschworen hatte, wurde nun über dies Zeichen, über seinen Gehalt, seine Herkunft, seinen Sinn eine stille strenge Betrachtung ab gehalten, welche jeden Mitspieler zwang, sich die Inhalte des Zeichens intensiv und organisch gegenwärtig zu machen.

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Glasperlenspiel: Mehr als die Milch der frommen Denkungsart…

Und hier noch einmal eine abschließende Zusammenfassung, die zeigt, dass das Glasperlenspiel als eine umfassende Schule des Bewusstseins verstanden werden kann und muss:

Es dürfte wenig mehr hinzuzufügen sein. Das Spiel der Spiele hatte sich, unter der wechselnden Hegemonie bald dieser, bald jener Wissenschaft oder Kunst, zu einer Art von Universalsprache ausgebildet, durch welche die Spieler in sinnvollen Zeichen Werte auszudrücken und zueinander in Beziehung zu setzen befähigt waren. Zu allen Zeiten stand das Spiel in engem Zusammenhang mit der Musik und verlief meistens nach musikalischen oder mathematischen Regeln. Ein Thema, zwei Themen, drei Themen wurden festgestellt, wurden ausgeführt, wurden variiert und erlitten ein ganz ähnliches Schicksal wie das Thema einer Fuge oder eines Konzertsatzes. Es konnte ein Spiel zum Beispiel ausgehen von einer gegebenen astronomischen Konfiguration, oder vom Thema einer Bachfuge, oder von einem Satz des Leibniz oder der Upanischaden, und es konnte von diesem Thema aus, je nach Absicht und Begabung des Spielers, die wachgerufene Leitidee entweder weiterführen und ausbauen oder auch durch Anklänge an verwandte Vorstellungen ihren Ausdruck bereichern. War der Anfänger etwa fähig, durch die Spielzeichen Parallelen zwischen einer klassischen Musik und der Formel eines Naturgesetzes herzustellen, so führte beim Könner und Meister das Spiel vom Anfangsthema frei bis in unbegrenzte Kombinationen. Beliebt war bei einer gewissen Spielerschule lange Zeit namentlich das Nebeneinander stellen, Gegeneinanderführen und endliche harmonische Zusammenführen zweier feindlicher Themen oder Ideen, wie Gesetz und Freiheit, Individuum und Gemeinschaft, und man legte großen Wert darauf, in einem solchen Spiel beide Themata oder Thesen vollkommen gleichwertig und parteilos durchzuführen, aus These und Antithese möglichst rein die Synthese zu entwickeln. Überhaupt waren, von genialen Ausnahmen abgesehen, Spiele mit negativem oder skeptischem, disharmonischem Ausklang unbeliebt und zuzeiten geradezu verboten, und das hing tief mit dem Sinn zusammen, den das Spiel auf seiner Höhe für die Spieler gewonnen hatte. Es bedeutete eine erlesene, symbolhafte Form des Suchens nach dem Vollkommenen, eine sublime Alchimie, ein Sichannähern an den über allen Bildern und Vielheiten in sich einigen Geist, also an Gott. So wie die frommen Denker früherer Zeiten etwa das kreatürliche Leben darstellten als zu Gott hin unterwegs und die Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt in der göttlichen Einheit erst vollendet und zu Ende gedacht sahen, so ähnlich bauten, musizierten und philosophierten die Figuren und Formeln des Glasperlenspiels in einer Weltsprache, die aus allen Wissenschaften und Künsten gespeist war, sich spielend und strebend dem Vollkommenen entgegen, dem reinen Sein, der voll erfüllten Wirklichkeit. „Realisieren“ war ein beliebter Ausdruck bei den Spielern, und als Weg vom Werden zum Sein, vom Möglichen zum Wirklichen empfanden sie ihr Tun.

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Von einem Bruder im Geiste des Glasperlenspiels…

Nachzutragen ist noch der organisatorische Aspekt des Glasperlenspiels. Dieses kann privat gespielt werden, allein oder zu mehreren, doch in Kastalien, der pädagogischen Provinz, gibt es einen eigenen Orden der Glasperlenspieler, der für die eigentlichen Profis reserviert ist. An seiner Spitze steht der „Magister Ludi“, der Spielmeister, der in der pädagogischen Provinz rangmässig direkt nach dem obersten Boss kommt. Einmal im Jahr nun gibt es ein grosses öffentliches Glasperlenspiel von mehreren Tagen Dauer, entworfen und aufgeführt vom Meister persönlich, in Anwesenheit vieler Würdenträger und per Rundfunk an viele Interessierte in der ganzen Welt übertragen.

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Meine Vision, aufbauend auf diesen Ideen vom Glasperlenspiel, ist nun folgende: Die pädagogische Provinz Kastalien II im Cyber-Continent zu errichten, einen Orden der Glasperlenspieler (und, anders als bei Hesse, selbstverständlich auch der Glasperlenspielerinnen) zu gründen und das Glasperlenspiel als Schule des Bewusstseins (wieder ? neu ? ) zu entwickeln.

Das mit der Provinz ist durchaus wörtlich zu nehmen: Wer sich mit so anspruchsvollen geistigen und spirituellen Zielen befasst, wird seine Ecke im Cyberspace immer abseits des Mainstreams einrichten müssen, und das ist auch gut so: Nur dort gibt es die nötige Muße und die nötigen Freiräume für eine wirkliche Bewusstseinsschule.

Provinz hat noch eine Bedeutung: Alles spricht dafür, dass funktionierende virtuelle Gemeinschaften eine Anbindung an die reale Welt brauchen, also ein Zentrum im faktischen Raum. Auch dafür sehe ich die Provinz als optimalen Standort, genauer gesagt das schweizerische Appenzellerland.

Die Geschichte mit dem Orden dagegen ist nicht ganz wörtlich zu nehmen: Es wird von niemandem Armut, Keuschheit oder Gehorsam verlangt. Vielmehr steht der Begriff des Ordens symbolisch für eine virtuelle Gemeinschaft, der es um mehr geht als um seichte Unterhaltung. Vielmehr verfolgen seine Mitglieder ein geistiges und spirituelles Ziel: Sie wollen in einer spielerischen Bewusstseinsschule ihren eigenen Geist weiter entwickeln.

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Das Glasperlenspiel als Orden der Herzen…

Klar ist auch, dass der virtuelle Orden der GlasperlenspielerInnen in Kastalien II nicht klassisch hierarchisch organisiert sein kann wie bei Hesse. Übernommen aber werden kann die Idee unterschiedlicher Kreise: Aussen wären all jene anzusiedeln, welche die Glasperlenspiele „nur“ zuschauend verfolgen (und auch dabei viel lernen können), innen jene, die – in unterschiedlicher Intensität – selber Beiträge zum Spielgeschehen liefern.

Womit wir bei den Glasperlenspielen selbst wären. Thematisch müssen diese selbstverständlich nicht in derselben dünnen Höhenluft der Abstraktion angesiedelt werden wie in den Beispielen von Hessen. Denkbar wären auch handfestere Leitthemen: Die Zukunft der Familie. Unser künftiges Arbeitsleben. Neue Modelle der Energieversorgung. Oder auch die Entwicklung einer virtuellen Gemeinschaft selbst.

Das Spielprinzip aber bleibt: Es werden Elemente aus unterschiedlichsten Wissens- und Erfahrungsgebieten miteinander in Beziehung gesetzt, auf Ähnlichkeiten und Unterschiede abgeklopft, zu einem neuen Gedankennetz verknüpft. Die Form der einzelnen Beiträge und der Reflexionen über ihre Zusammenhänge ist dabei frei wählbar: Texte, Grafiken, Statistiken, Töne, Bilder etc. Zum Spiel kann man auf zwei Arten beitragen: Entweder man bringt ein neues Element ein oder einen Beitrag über die Beziehungen zwischen schon vorhandenen Elementen.

Welches Medium wäre für diese Form des Spielens geeigneter als das Internet ? Die Idee, die mit dem brieflichen Fernschach angefangen hat, findet hier ihre Vollendung: Unabhängig von Zeit und Raum kann jede(r) sich aktiv oder passiv am Spielgeschehen beteiligen und ist so Teil einer virtuellen Gemeinschaft. Alle Beteiligten profitieren von den Lerneffekten dieser Bewusstseinsschule.

Zudem ist das Ganze nicht einfach esoterischer Selbstzweck. Vielmehr sind die Glasperlenspiele auch ein Ideenlabor, in dem Ideen entwickelt werden, untereinander agieren können, auf ihre Überlebensfähigkeit hin getestet werden und so auch neue Impulse schaffen, die nach aussen abstrahlen können.

Andreas Giger, 9.12.99

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