Ursachen und Folgen des 9. Februars 2014

Die Ergebnisse der Umfrage sind aufschlussreich…
Welches waren die Motive für ein JA oder ein NEIN zur Masseneinwanderungs-Initiative am 9. Februar? Und wie werden die ersten Auswirkungen dieses knappen Entscheids beurteilt? spirit.ch hat in einer Online-Umfrage danach gefragt. Die Ergebnisse lassen tiefer blicken als gewohnt.
Inhaltsverzeichnis
Ein Ausschnitt aus der Bevölkerung
Ausgewogenes Verhältnis zwischen JA und NEIN
Die Motive für ein JA
Die Motive für ein NEIN
Gemischte Gefühle
Die Auswirkungen des Entscheids generell
Die Auswirkungen auf den Lebensstandard in der Schweiz
Die Auswirkungen auf die Lebensqualität in der Schweiz
Bereitschaft zum weiteren Dialog
Ein Ausschnitt aus der Bevölkerung
Bis zum Abschluss der Umfrage am 6. April 2014 haben 189 Personen mit der Umfrage begonnen, 163 haben sie abgeschlossen.
84% der Teilnehmenden sind SchweizerInnen, und 87% leben hauptsächlich in der Schweiz. Obwohl viele ausländische Netzmitglieder zur Teilnahme eingeladen wurden, haben sich weitgehend doch nur die direkt Betroffenen zu Wort gemeldet. Das lässt darauf schliessen, dass das Interesse an der Schweiz ausserhalb der Landesgrenzen doch nicht so gross ist, wie im Inland gelegentlich vermutet wird, denn bei anderen Befragungen von spirit.ch haben wir immer eine grössere Teilnehmerschaft aus dem Ausland…
Innerhalb des Kreises der direkt Betroffenen hat sich ein atypischer Ausschnitt zu Wort gemeldet. Es sind überdurchschnittlich Gebildete vorwiegend männlichen Geschlechts (71%), und vor allem sind sie wesentlich älter als der Durchschnitt. (bis 50: 27%; 50 bis 66: 21%: 66plus: 52%). Wie die mittlerweile publizierte offizielle Abstimmungs-Analyse zeigt, waren die Jungen zwar weitgehend gegen die Vorlage, gingen aber kaum abstimmen, während die ältere Generation fleissig abstimmte und eher zum Ja tendierte. Umgekehrt waren die besser Gebildeten eher für ein NEIN.
Wie haben sich nun diese unterschiedlichen Zusammenhänge auf das Abstimmungsverhalten der Umfrage-Teilnehmer ausgewirkt? Da 81 Prozent der Teilnehmenden tatsächlich abgestimmt haben, lässt sich diese Frage beantworten:
Ausgewogenes Verhältnis zwischen JA und NEIN

Nehmen wir die angesichts der eher kleinen Zahlen beträchtliche statistische Unsicherheitsspanne hinzu, ergibt sich genau dasselbe Bild wie bei der „richtigen“ Abstimmung: Zwei genau gleich grosse Lager stehen sich gegenüber. Im Segment jener erfahrenen Menschen, das unsere Umfrage abbildet, herrscht also ebenfalls ein Patt. Dies erlaubt es uns, alle folgenden Fragen nach Ursachen und Auswirkungen der Abstimmung jeweils nach den beiden Lagern zu differenzieren.
Anders als in der erwähnten VOX-Analyse haben wir nicht nach einer einzigen spontanen Begründung für den Entscheid gefragt, sondern jeweils eine Liste von zwölf möglichen Motiven für ein JA bzw. ein NEIN vorgelegt, und diese Motive nach ihrer Bedeutung einstufen lassen, mit einer Zahlenskala von 1 (keinerlei Bedeutung) bis 10 (extrem hohe Bedeutung). Zudem haben wir zweifach gefragt, nämlich zunächst nach der Einschätzung der Bedeutung jedes Motivs beim Stimmvolk (also dass, was man denkt, warum die anderen so gestimmt haben), und später nach der persönlichen Bedeutung des Motivs bei der eigenen Entscheidung.
Das ergab bei den Motiven für ein JA folgende Rangierung:
(Lesebeispiel: Die TeilnehmerInnen gaben dem Motiv „Allgemeines Gefühl, so könne es nicht weitergehen“ die Bedeutung von durchschnittlich 8.3 auf einer Skala von 10 (gelb). Dabei hatten die JA-Stimmenden den Eindruck, für das Stimmvolk sei dieses Motiv mit einem Wert von 8.6 (grün) am wichtigsten für die JA-Stimmabgabe gewesen, während dem die NEIN-Stimmenden diesem Motiv „nur“ eine 7.9 (rot) in der Wichtigkeit gaben. Effektiv gaben die wirklich JA-Stimmendem diesem Motiv dann eine 8.3 (hell-grün) in der Wichtigkeit, das damit auch zum Hauptmotiv wurde.


An erster Stelle steht „Allgemeines Gefühl, so könne es nicht weitergehen“. Das ist auch das wichtigste eigene Motiv der JA-Stimmenden. Es ging also primär um eine emotionale Grundbefindlichkeit. Und diese wird gleich noch konkreter: Man hat Angst vor zu viel Verkehr, zu viel Zersiedelung, zu viel Umweltbelastung, und erst dann vor zu vielen Ausländern („Überfremdung“). Letzteres Motiv schwang in der VOX-Analyse obenauf, doch in unseren Ergebnissen zeigt sich, dass die Angst vor Überfremdung zumindest auch symbolisch zu verstehen ist: Man hat Angst, es würde alles zu viel.
Das wird noch bestätigt durch den Umstand, dass in unserer Umfrage die Angst vor Überfremdung von den JA-Stimmenden nicht zu ihren Hauptmotiven gezählt wird. Das allgemeine Gefühl, so könne es nicht weitergehen, ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Regierung und Politik sowie der Zweifel am Sinn ungebremsten (Wirtschafts-)Wachstums, sind wesentlich wichtiger gewesen.
Die weiteren Motive spielen eine weniger wichtige, doch immer noch bedeutsame Rolle: Der JA-Entscheid beruhte auf einem Mix von Motiven. Nur „schlechte Erfahrungen mit Ausländern“ gehört nicht dazu, und schon gar nicht eine generelle „Ausländerfeindlichkeit“.
Dazu kurz die jeweils Top3 – platzierten Ranglisten:
Von den JA-Stimmenden vermutetes Motiv für das JA des Stimmvolks
1. Allgemeines Gefühl, so könne es nicht weitergehen – 8.6
2. Angst vor „zu viel“ (Verkehr, Zersiedelung, Umweltbelastung) – 8.5
3. Zweifel am Sinn ungebremsten (Wirtschafts-)Wachstums – 8.0
3. Misstrauen gegenüber Regierung und Politik – 8.0
Von den NEIN-Stimmenden vermutetes Motiv für das JA des Stimmvolks
1 Angst vor Überfremdung – 8.3
2. Allgemeines Gefühl, so könne es nicht weitergehen – 7.9
3. Angst vor „zu viel“ (Verkehr, Zersiedelung, Umweltbelastung) – 7.7
Effektives Motiv für die JA-Stimme
1. Allgemeines Gefühl, so könne es nicht weitergehen – 8.3
2. Zweifel am Sinn ungebremsten (Wirtschafts-)Wachstums – 8.0
2. Misstrauen gegenüber Regierung und Politik – 8.0
Vor allem sticht bei der Rangliste ins Auge, dass der von Nein-Stimmenden vermutete Hauptgrund für das JA „Angst vor Überfremdung“ bei den effektiven JA-Stimmenden mit einer Wichtigkeit von 6.6 erst mit 1.7 Punkten abgeschlagen auf dem 6. Platz folgt. Interessant ist hier auch vor allem, dass viele, vor allem ausländische Medien dies ebenfalls als Hauptgrund sahen und dies so auch munter publizierten.
Auch hinter den NEIN-Stimmen steckt ein Bündel von Motiven, wie die Ergebnisse der analogen Frage zu den NEIN-Motiven zeigt:


Auch hinter dem NEIN steckt laut Einschätzung aller Befragten ein breiter Fächer höchst unterschiedlicher Motive. Auf der einen Seite Angst-Motive, wie vor allem jene vor der Gefährdung des wirtschaftlichen Wohlergehens und vor einer Trübung des Verhältnisses zur EU, aber auf der anderen Seite auch positive Motive wie „Ein Zeichen für Weltoffenheit setzen“ und „Den Austausch mit anderen als Gewinn betrachten“.
Die NEIN-Stimmenden selber sehen in Ihrem Entscheid primär ein Bekenntnis zur Offenheit und zum Austausch, vor allem für die Jugend. Danach folgen die beiden oben genannten positiven Motive. Nicht unwichtig dabei sind positive Erfahrungen mit Ausländern, das an vierter Stelle folgt.
Grössere Unterschiede zwischen den beiden Lagern gibt es bei zwei spezifischen Angst-Motiven: Die Befürworter unterstellen den Gegnern weitaus mehr Angst vor einem schlechten Image der Schweiz und vor Bestrafung durch die EU, als diese selber empfinden. Nicht unwichtig ist schliesslich ein Gefühl grundsätzlichen Vertrauens in den Weg der Schweiz für ein NEIN zur Initiative gewesen.
Die in unserer Befragung ermittelte Motivlage ist nicht repräsentativ für die Gesamtabstimmung und erklärt also deren Begründung keineswegs vollständig. Doch aufgrund der Ausgeglichenheit der Ja- und Nein-Stimmenden bei unserer Befragung zeigt sie sicherlich eine klare Tendenz auf. Die Ergebnisse zeigen ebenfalls auf, dass auch bei den gut gebildeten reifen Menschen, die an der Befragung teilgenommen haben, ein ziemlich wilder Mix aus unterschiedlichen Gefühlen und Überlegungen für den jeweiligen Entscheid wirksam war. Vorschnelle Erklärungsmodelle greifen ins Leere.
Die chaotische Motivlage hat also auch bei unserem Segment der Abstimmenden letztlich zu einem praktisch ausgeglichenen Ergebnis geführt. Diese beiden Lager stehen sich aber nicht unversöhnlich gegenüber. Letztlich spüren die meisten, dass auch einige Argumente des jeweils anderen Lagers Hand und Fuss haben. Man kann sich also noch ins andere Lager einfühlen, und das ist gut so. Von einigen Ausnahmen abgesehen vermuten die jeweils Anderen beim Gegenüber einigermassen die richtigen Motive. Eine Voraussetzung für einen künftigen Dialog ist also gegeben, auch wenn beide Lager vorher noch einige Vorurteile über den jeweiligen Gegner auszuräumen haben…
Die Auswirkungen des Entscheids generell
Als erstes wurde in der Umfrage nach einer generellen Beurteilung des Abstimmungsentscheids gefragt:

Obwohl beide Lager gleich gross sind, überwiegt insgesamt eine eher skeptische Bewertung der Folgen dieses Abstimmungsentscheids. Das rührt daher, dass auch ein Drittel der JA-Stimmenden eher negative Folgen sieht. Das bestätigt ein Ergebnis der VOX-Analyse: Ein wesentlicher Teil hat im vollen Bewusstsein möglicher negativer Folgen JA gesagt.
Trotzdem antworteten nur gerade zwei Personen (!), dass sie heute mitunter nach Bekanntwerden der heftigen Reaktionen aus dem Ausland, anders stimmen würden. Eine Person würde vom JA zum NEIN wechseln und eine andere vom NEIN zum JA…. Fast 99% der TeilnehmerInnen, die auch wirklich abgestimmt haben, halten Ihren Entscheid also für nach wie vor richtig.
Die Auswirkungen auf den Lebensstandard in der Schweiz
Differenzierter haben wir nach den Auswirkungen des Entscheids auf den Lebensstandard bzw. die Lebensqualität in der Schweiz gefragt:

Auch hier überwiegen die skeptischen Stimmen leicht, denn auch hier gibt es zwar JA-Sager, die negative Folgen vorhersehen, aber (fast) keine NEIN-Sager, die positive Folgen sehen.
Die Auswirkungen auf die Lebensqualität in der Schweiz

Anders als beim Lebensstandard werden die Folgen des Abstimmungsentscheids auf die Lebensqualität ziemlich ausgewogen betrachtet. Hier nämlich sind sich jetzt die JA-Sager ziemlich einig darüber, dass die Folgen positiv sein werden, und kompensieren damit die Befürchtungen der NEIN-Sager.
Insgesamt werden die Folgen des 9. Februars unterschiedlich gesehen, je nachdem, zu welchem Lager man gehört. Die Auswirkungen generell und jene auf den Lebensstandard werden insgesamt eher skeptisch betrachtet, bei den Folgen für die Lebensqualität ist man sich nur einig darüber, dass man sich nicht einig ist.
Dies gilt generell für die Zukunftsperspektiven der Schweiz. Und das könnte zum ernsthaften Problem werden: Wie soll man sich über die Zukunft der Schweiz einig werden, wenn man derart unterschiedliche Erwartungen, Hoffnungen und Ängste zu dieser Zukunft hat?
Immerhin: in einem sind sich die Befragten weitgehend einig: In der Schweiz gibt es eine hohe Lebensqualität. Der Durchschnitt der Einschätzung der eigenen Lebensqualität lag bei dieser Befragung auf der Skala von 1 bis 100 bei rekordverdächtigen 82! Fast ebenso hoch ist der Mittelwert bei der Frage nach dem persönlichen Zukunfts-Optimismus, nämlich 75. Interessant dabei: Jene, die an der Abstimmung teilgenommen haben, sind insgesamt deutlich optimistischer als die übrigen: Bei den JA-Sagern liegt der Mittelwert bei 80, bei den NEIN-Sagern bei 77.
Bereitschaft zum weiteren Dialog
Eine Mehrheit der Teilnehmenden an dieser Befragung ist zur Teilnahme an weiteren Befragungen bereit:

Dass beide Lager in ähnlichem Ausmass zur Fortsetzung des Dialogs bereit sind, stimmt optimistisch. Wir hoffen natürlich, dass Sie beim nächsten Mal ebenfalls dabei sein werden und danken allen TeilnehmerInnen dieser Befragung ganz herzlich!
9. April 2014 – die Verfasser des Artikels: Dr. Andreas Giger, Christian Engweiler
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