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Für ein entschiedenes sowohl als auch

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Die Schweiz als Vorreiterin der Mitte

In diesem nie abgeschickten Brief plädierte im Jahr 1999 Andreas Giger für eine Stärkung der Mitte – in jeder Hinsicht…

Offener Brief an Franz Steinegger vom 14. Mai 1999:

Für eine entschiedenes sowohl als auch

Lieber Herr Steinegger

Wie habe ich Sie vermisst am (vor-)letzten Freitag in der „Arena“, als dieses unsägliche Duell zwischen Herrn Blocher und Frau Koch stattfand ! Wer weiss, wie wichtig eine starke Mitte für eine gedeihliche Zukunft der Schweiz werden wird, musste sich vorkommen wie weiland Odysseus bei der Wahl zwischen Skylla und Charybdis, oder, profaner, wie bei der Entscheidung zwischen Pest und Cholera. Die beidseitig, wenn auch spiegelbildlich ausgestrahlte Mischung aus Dogmatismus und Arroganz wirkte nicht nur unästhethisch, sondern auch zum Gähnen langweilig.

Gut, die Mitte, die nach dem eindeutigen Ausscheren der SVP nach rechts noch aus Ihren Freisinnigen und der CVP besteht, war auch vertreten, wirkte aber nach den wenig erfreulichen Wahlergebnissen aus Zürich und Luzern reichlich geknickt. Auch das, was man von Ihnen persönlich in den letzten Tagen sah und las, deutete nicht darauf hin, dass sich die politische Mitte der Schweiz derzeit in Topform befindet. Vielmehr haben mich die Auftritte der Exponenten dieser Mitte fatal an einen Geniestreich von Emil erinnert, in dem er den Auftritt eines Parteipräsidenten nach einer Wahlniederlage verulkt, indem er verbal zwar munter tapfere Durchhalteparolen absondert, mimisch aber gleichzeitig abgrundtiefe Verzweiflung signalisiert…

Ein starkes Stück war es schliesslich, als der SVP-Präsident im Siegestaumel von den „gefährlichen Halbstarken im politischen Sumpf der Mitte“ sprach, die sich nicht zwischen links und rechts entscheiden könne. Schon in der „Arena“ hatte es der forsche SVP-Jungstar Toni Brunner auf den Punkt gebracht: „Das Volk will klare Positionen, kein sowohl als auch.“ Basta.

Die Mitte erblasst darob vor Neid, beklagt sich bitterlich darüber, rechts (und auch links) könne man eben plakative Parolen verkünden, während man selbst die mühsame Kärnerarbeit komplexer Lösungen leisten müsse. Und, wird dann meist noch in einem Anflug von Trotz hinzugefügt, man müsse die eigenen Leistungen einfach besser kommunizieren.

Alles also eine Frage der richtigen PR ? Keine Frage, in Sachen Verpackung macht die Rechte der Mitte derzeit einiges vor, doch in einer reifen Gesellschaft wie der unsrigen kann mit der gelacktesten Verpackung nicht der Mangel an einer überzeugenden, selbstbewusst vorgetragenen Botschaft übertüncht werden. Überzeugend wirken dabei nur eigene und eigenständige Inhalte, weil das Original im Zweifelsfalle der Kopie vorgezogen wird. Es mag ja sein, dass derzeit gilt: „Von der SVP lernen, heisst siegen lernen.“ Doch „lernen“ kann in diesem Fall nicht gleichbedeutend sein mit „kopieren“.

Was dann ? Aus philosophischen, therapeutischen und spirituellen Schulen ist das Prinzip des Lernens durch Paradoxe bekannt: Man beschäftigt sich gedanklich mit scheinbar paradoxen Auswegen aus einer Krise und gewinnt dadurch überraschende neue Perspektiven. Das vielleicht bekannteste Beispiel für diesen paradoxen Ansatz ist der Wille, aus einer Not eine Tugend zu machen.

Und genau dieses schlage ich in aller Bescheidenheit vor: Wenn die politischen Pole zur Rechten und Linken ihre Erfolge durch eine Politik des strikten entweder oder erzielen, muss die Mitte auf ein entschiedenes sowohl als auch setzen.

Paradoxe Lösungsansätze haben es meistens in sich, dass sie bei näherem Zusehen weit weniger irrwitzig wirken als auf den ersten Blick, ja, sie erweisen sich oft genug als die bei weitem vernünftigsten Strategien. Das gilt auch für Ihre Probleme, welche die Probleme der sich herausbildenden neuen Mitte in der schweizerischen Politik sind. Auf den ersten Blick hat Toni Brunner recht: Derzeit geht der Trend eher zu den einfachen, plakativen Lösungen. Was als strategische Konsequenz für die Mitte bedeuten würde, auf den fahrenden Zug aufzuspringen, differenziertes Denken und Handeln über Bord zu schmeissen und nur noch plakative Botschaften auszusenden.

Auf den zweiten Blick dagegen erscheint eine selbstbewusste Politik, die für ein entschiedenes sowohl als auch eintritt, die einzig vernünftige, weil zukunftsträchtige Lösung. Was zu beweisen wäre:

Punkt 1: Es gehört zu den üblen Tricks der politischen Pole, jeweils gleich das ganze Volk für sich zu vereinnahmen, auch wenn mal gerade ein Fünftel oder ein Viertel der Wählenden sich für die eigene Position entschieden haben. Die Rechte spricht davon, das Volk halte nichts von Europa, und übersieht gerne, dass damit höchstens die Hälfte des Volkes gemeint ist, die Linke redet gern vom einfachen Volk, wozu sie über 90 Prozent der Bevölkerung zählt, und negiert dabei, dass die Mehrheit davon mit dieser Einordnung wenig anfangen kann. Faktisch vertreten beide Pole nur Minderheiten, wenn es denn eine Mehrheit gibt in diesem Lande, dann steht sie noch immer in der Mitte.

Punkt 2: Politische Trends sind schwankend und kurzlebig wie Modeströmungen und sagen wenig aus über die langfristigen Entwicklungstendenzen. Kurzfristig mag der Trend zu simplen Antworten spektakulär wirken. Mittel- und langfristig gesehen jedoch handelt es sich dabei um ein Auslaufmodell. Es wird vermutlich nie ganz vom politischen Markt verschwinden, aber die Zukunft gehört einer anderen Art des politischen Denkens: multidimensional und multioptinal. Die Wirklichkeit hat nun einmal mehr als eine Dimension. Sie selber haben sehr zu recht festgestellt, es gäbe zusätzlich zu der nach wie vor manchmal gültig bleibenden Links-Rechts-Dimension in der Schweizer Politik zunehmend zusätzliche Dimensionen, etwa jene zwischen rückwärts und vorwärts. Das nenne ich Einsicht, was gemäss dem lateinischen Wortstamm nichts anderes als Intelligenz bedeutet.

Und hierzu habe ich als Zukunftsforscher, der sich philosophisch und empirisch intensiv mit der Frage beschäftigt, was wir morgen wollen werden, eine tröstliche Botschaft: Intelligenz wird sexy. Intelligenz wird zu einem Schlüsselbegriff des nächsten Jahrhunderts. Und weil zur Intelligenz quasi automatisch die Einsicht gehört, die Welt sei in plakativem Schwarz-Weiss nur unzureichend abgebildet, wird das entschiedene sowohl als auch zu einem Leitmotiv einer zunehmenden Zahl von Menschen. Diese lernen diesen Grundsatz nicht einfach in der Theorie, sondern in ihrer Lebenspraxis: Wenn Biografien immer weniger gradlinig und immer mehr in chaotischen Windungen verlaufen, wird eine simplifizierende Weltsicht der Wirklichkeit immer weniger gerecht.

Patchwork-Biografien und Cocktail-Persönlichkeiten sind Lebensmodelle von zunehmender Bedeutung. Se werden nie für alle Gültigkeit haben, aber für eine wachsende Zahl von Menschen, die nicht in sturen Kategorien von entweder oder gefangen sein, sondern in sich selber und in der Gesellschaft um sich herum einen Ausgleich zwischen verschiedenen Interessen schaffen wollen. Auf den Punkt gebracht: Sie sind für ein entschiedenes sowohl als auch.

Punkt 3: Diese Haltung ist deswegen die einzig zukunftsträchtige für eine neue starke Mitte in der Schweiz, weil sie im tiefsten Sinne liberal ist. Liberales Denken lässt sich bekanntlich am besten in Abgrenzung zum Gegenteil definieren, also zum dogmatischen oder fundamentalistischen Denken, das die politischen Pole zur Rechten und Linken zunehmend durchtränkt: Dort ein starres Schema von richtig und falsch, die Vorstellung, es gäbe nur für eine Sicht der Dinge Platz, die Neigung, die Wirklichkeit in das Korsett der eigenen Weltanschauung zu pressen, der Aufbau der eigenen Identität durch Diffamierung des Gegners – hier die Skepsis gegenüber endgültigen Entscheidungen über richtig und falsch, die Überzeugung, es gäbe verschiedene legitime Arten, die Welt zu sehen, und es sei ein Ausdruck von Stärke, dazwischen einen Ausgleich zu suchen, die Bevorzugung der Wirklichkeit vor dem ideologischen Wunschdenken und die Haltung, sich mehr über die eigenen Stärken als über die gegnerischen Schwächen zu definieren.

So verstandenes liberales Denken war noch nie etwas für einfache Gemüter. Das schöne Wort „freisinnig“ erklärt warum: Freies Denken ist so wenig wie freies Leben gratis zu haben. Frei zu sein, bedeutet eben auch, sich immer wieder zwischen verschiedenen Möglichkeiten entscheiden zu müssen, oder aber intelligente Strategien dafür zu finden, aus verschiedenen Angeboten das Beste zu kombinieren, und beides kostet immer wieder Gehirnschmalz. Einfacher und bequemer ist es natürlich, sich einmal für links oder rechts zu entscheiden und sich dann das eigene Denken abnehmen zu lassen. Die untrennbare Verbindung von Freiheit und Eigenverantwortung, der Kern liberalen Denkens, schmeckt nicht allen. Doch sie hat gerade in diesem Land nicht nur eine stolze Vergangenheit. In ihr stecken auch enorme Potentiale für die Zukunft.

Punkt 4: Es ist beinahe banal, aber deshalb nicht weniger gültig, dass die Schweiz die Früchte der Haltung des entschiedenen sowohl als auch braucht: Ausgleich und Integration. Vermutlich noch mehr als andere sind wir auf intelligente Vernetzungen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen und Interessen angewiesen. Wir brauchen reife Kombinationen von Heimatliebe und Weltoffenheit, von wirtschaftlicher Freiheit und sozialem Ausgleich, von jungen und alten Werten, von deutscher und lateinischer Mentalität. Exakt das ist die Aufgabe der politischen Mitte. Und wenn sie dabei nicht entschieden beide Seiten (oft genug sind es ja noch mehr) ins Auge fasst, wird sie daran scheitern. Allein die Vorstellung davon macht klar, wie wichtig diese integrative Funktion der Mitte ist. Sie hat deshalb allen Grund zu Selbstbewusstsein.

Punkt 5: Der Blick über die Grenzen zeigt, dass ein selbstbewusstes und entschiedenes sowohl als auch ein politisches Erfolgsrezept darstellt. In Bayern ist die höchst erfolgreiche CSU entschieden sowohl für Lederhosen als auch für Laptops. In England, das Sie ja aufmerksam beobachten, bildet nichts anderes die Grundlage von der Idee des dritten Weges. In Deutschland läuft zwar die Realität den proklamierten Ideen von der neuen Mitte hinterher, aber immerhin war es Willy Brandt, der im Zusammenhang mit der Haltung der SPD zur Atomenergie als einer der ersten von einem entschiedenen sowohl als auch sprach, und vielleicht wirkt ja die Botschaft bei den Enkeln und Urenkeln eines Tages doch noch richtig, wobei wir hier im Falle der SPS auf diesen Tag sicher noch wesentlich länger warten müssen. Umso grösser ist die Chance für Mitte…

Punkt 6: Als ich als junger Mensch den Satz von Willy Brandt zum ersten Mal hörte, war ich empört, schliesslich widersprach er allen Grundsätzen einer senkrechten, gradlinigen und konsequenten Politik. Ein langes Leben hat mich seither gelehrt, dass das Leben selten senkrecht, gradlinig und konsequent ist, was von intelligenten Menschen entsprechende Reaktionen verlangt. Nur spätpubertärer jugendlicher Übermut verleitet dazu zu sagen: „Wenn Theorie und Realität nicht übereinstimmen, ist das umso schlimmer für die Realität !“. So gesehen scheinen die politischen Flügel in der kollektiven Pubertät stecken geblieben zu sein, während allein die Mitte in einem Reifungsprozess unterwegs zum Erwachsensein steckt. In Mustern des entschiedenen sowohl als auch denken und handeln zu können, und dies nicht verschämt und defensiv, sondern selbstbewusst, ist nun mal ein Zeichen von Reife. Und auf Dauer gesehen, auch dies ein Ergebnis meiner Zukunftsforschung, hat der Jugendlichkeitswahn keine Chance, die wirklichen Potentiale stecken vielmehr in den reifen Werten.

Ich hoffe, ich habe Sie mit diesen tröstlichen Botschaften etwas aufmuntern können. Das wäre in meinem ureigenen Interesse, denn dieses Land braucht eine starke neue Mitte. Neu braucht dabei nicht das Wertefundament zu sein, im Gegenteil, das liberale Gedankengut ist es wert, als transformierte Tradition in die Zukunft transportiert zu werden. Neu können, ja müssen die Organisationsformen jener Bürgerinnen und Bürger sein, die sich dazu bekennen, und die sind ja beileibe nicht nur in der FDP oder CVP zu finden. Ich sehe allerdings weit und breit niemanden, der dabei die Führungsrolle übernehmen könnte, ausser dem traditionsreichen Freisinn. Ich wünsche Ihnen dazu ein starkes Selbstbewusstsein im Sinne des entschiedenen sowohl als auch.

Ihr Andreas Giger

 

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