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Wir werden bescheidener leben

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Ein ausführliches Interview zum Jahreswechsel

Die „Schaffhauser AZ“ führte zum Jahreswechsel ein ausführliches Gespräch mit spirit.ch-Mitgründer Andreas Giger, der ursprünglich aus Schaffhausen stammt. Das Interview führte Bernhard Ott. Es erschien am 29. Dezember 2011.

Der Zukunftsphilosoph Andreas Giger über 2012 und die Zukunft unserer Gesellschaft

„Ich habe keine Kristallkugel“

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Bernhard Ott

Andreas Giger, wir stehen an der Schwelle eines neuen Jahres. Sie sind Zukunftsphilosoph. Da liegt es nahe, Sie zu fragen, was Sie von 2012 erwarten.

Andreas Giger Auf jeden Fall nicht den Weltuntergang, der ja wegen des Auslaufens des Maya-Kalenders für Ende 2012 angekündigt wurde. In wirtschaftlicher Hinsicht dürfte 2012 ein schwieriges Jahr werden, aber es wird keine grossen Katastrophen geben. Bei allen Voraussagen darf man allerdings nicht vergessen, dass der Jahreswechsel am 1. Januar eine künstliche Unterteilung ist. So fand im Mittelalter der Jahreswechsel an Weihnachten statt, bei den Römern im März.

Trotzdem macht man sich vor Silvester und Neujahr etwas intensiver Gedanken über die Zukunft als sonst. Bei Ihnen ist dieses Nachdenken sogar zum Beruf geworden. Was tut ein Zukunftsphilosoph konkret?

Ich habe meine Tätigkeit ursprünglich als Zukunftsforschung bezeichnet. Im Laufe der Zeit kam ich aber zum Schluss, dass das ein zu hoher Anspruch ist. Streng genommen kann man nicht etwas erforschen, das es gar nicht gibt. Darum gefällt mir die Bezeichnung Zukunftsphilosoph besser, weil in diesem Wort das Nachdenken und das Fragen enthalten sind, und genau darum geht es: Ich stelle Fragen und ich denke nach; ich habe also keine Kristallkugel, um in die Zukunft zu schauen.

Sie lesen auch nicht aus dem Kaffeesatz?

(lacht) Nein.

Auf was basiert denn Ihr Wissen?

Zu Beginn beschäftigte ich mich mit der Beobachtung von rein technischen Entwicklungen. Heute interessieren mich die Veränderungen in den Köpfen der Menschen. Da steht vor allem der Wertewandel im Vordergrund. Wenn man diese Frage systematisch analysiert, kann man gewisse Schlüsse ziehen, wohin sich zuerst die Elite und dann auch die Mehrheit der Gesellschaft bewegen werden.

Wer interessiert sich für die Erkenntnisse, die Sie aus Ihren Beobachtungen gewinnen?

Da gibt es verschiedene Interessenten. Zum Teil sind es Einzelpersonen, zum Teil sind es Unternehmungen, die mich für einen Vortrag buchen. Ausserdem haben ein Kollege und ich kürzlich eine Stiftung gegründet (www.spirit.ch). Sie ermöglicht es, dass unsere Forschungen publiziert werden können.

Kommen wir auf den Wertewandel zurück, von dem Sie vorhin gesprochen haben. Was wird sich in den nächsten zehn, zwanzig Jahren verändern?

Es ist ganz eindeutig: Die Frage der Lebensqualität wird einen höheren Stellenwert einnehmen als das Streben nach einem möglichst hohen Lebensstandard. Dafür sind nicht zuletzt wirtschaftliche Faktoren verantwortlich. Die Zeiten des immerwährenden Wachstums sind vorbei, wir werden künftig eher weniger materielle Güter zur Verfügung haben als heute, so dass immaterielle Werte eine grössere Bedeutung bekommen. Man wird sich wieder vermehrt die Frage stellen, um was es im Leben eigentlich geht, ob es entscheidend ist, was man auf dem Konto hat, oder ob es noch andere Aspekte gibt, die ebenso wichtig sind.

Die Schuldenkrise und die Folgen in einzelnen besonders betroffenen Ländern scheinen Ihnen Recht zu geben. Sind wir auch in der Schweiz mitten in der Entwicklung, die Sie skizziert haben?

Die Schweiz ist keine Insel der Glückseligen. Selbst wenn uns die Schuldenkrise nicht so hart trifft, werden wir zusätzliche Belastungen aus kollektiven Aufgaben zu verkraften haben, wie etwa die Sicherung der Renten, höhere Ausgaben für den Umweltschutz und so weiter. Das frei verfügbare Einkommen des Einzelnen wird also auch bei uns abnehmen. Wir werden folglich wieder lernen müssen, bescheidener zu leben.

Was bedeutet die Hinwendung zu immateriellen Werten? Sehen Sie eine geistige oder sogar religiöse Rückbesinnung?

Es wird in erster Linie um mehr Lebensqualität gehen. Dieser Begriff ist übrigens nicht neu. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat schon 1972 erkannt, dass das Ziel der Gewerkschaften nicht primär die permanente Erhöhung der Löhne sein sollte, sondern grundsätzlich die Schaffung von mehr Lebensqualität für die breite Bevölkerung. Als Sekretär der SP des Kantons Schaffhausen habe ich damals den Begriff übernommen und zum Wahlkampf-Slogan gemacht.

Greifen Sie in Ihrer Arbeit die damaligen Vorstellungen wieder auf?

Nein, im Gegensatz zu den Ideen der Siebzigerjahre ist nicht der Staat oder eine Partei dafür verantwortlich, dass es mehr Lebensqualität gibt, sondern das Individuum muss das selbst für sich entscheiden. Darum kann Lebensqualität sehr unterschiedlich sein. In meiner empirischen Forschung habe ich ein Modell entwickelt, das diese Frage etwas genauer zu fassen versucht. Ich habe auf Grund meiner Befragungen 16 Bereiche definiert, zu denen u.a. Gesundheit und Partnerschaft gehören. Wichtig sind aber auch die Reifung der Persönlichkeit, das Dazulernen, der Sinn des Lebens und die Lebenskunst, die es versteht, die verschiedenen Sphären in die Balance zu bringen.

Die Reifung des Individuums ist das Eine, aber alle Reife nützt nichts, wenn wir weiterhin unsere Rohstoffressourcen verpulvern und die Klimaerwärmung vorantreiben. Oder erwarten Sie, dass der Wertewandel, von dem wir gesprochen haben, am Ende auch zur Lösung aller globalen Probleme führt?

Veränderungen brauchen immer Zeit, sie kommen nicht von heute auf morgen und äussern sich auch nicht in spektakulären Ereignissen. Ich traue der Menschheit eine gewisse Lernfähigkeit zu, darum bin überzeugt, dass intelligente Lösungen für die grossen Herausforderungen unserer Zeit künftig mehr Aussicht auf Erfolg haben werden. Das schliesst vorübergehende Krisen nicht aus, auch wenn wir in der Schweiz davon weniger betroffen sein werden.

Auch dann nicht, wenn der Franken noch während Jahren zu hoch bewertet ist und die EU mittelfristig die Daumenschrauben anzieht, wenn wir weiterhin abseits stehen?

Ich wage keine konkrete Prognose, aber irgendwann werden wir in der EU sein. Bis es soweit ist, kann es allerdings noch dauern.

Wie lange? Einige Jahrzehnte?

Ein Jahrzehnt mindestens, doch gibt es immer das Unvorhergesehene, das niemand auf dem Radar gehabt hat, darum können bestimmte Ereignisse plötzlich alles beschleunigen. Man darf nicht vergessen, dass die EU immerhin die wichtigste Handelspartnerin der Schweiz ist. Es ist durchaus möglich, dass irgendwann ein Druck entsteht, dem wir uns nicht zu entziehen vermögen.

Dieses Problem werden dann die kommenden Generationen lösen müssen. Sie selbst sind 60 Jahre alt und stehen kurz vor dem Pensionierungsalter. Was erwarten Sie? Werden künftige Senioren weniger Rente haben und vielleicht auch eine kürzere Lebenserwartung?

Bisher ist kein Ende des Trends zu einer noch längeren Lebenserwartung abzusehen. Die Pflegekosten dürften aber nicht im gleichen Mass zunehmen, denn wir werden im Alter eher gesünder sein. Der grösste Teil der Gesundheitskosten wird darum nach wie vor in der letzten, relativ kurzen Phase vor dem Tod anfallen.

Und die Renten?

Was die Renten betrifft, wird man nicht darum herumkommen, angesichts des steigenden Lebensalters die Zeit der Erwerbsarbeit auszudehnen, allerdings nicht pauschal, denn beim Maurer sieht das anders aus als beim Pfarrer. Das starre Rentenalter ignoriert die Belastung der einzelnen Berufsgruppen. Da ist ein Ausgleich nötig. So oder so werden die künftigen Senioren aber eine aktivere Rolle spielen als früher. Man wird nicht mehr tatenlos vor dem Haus auf dem Bänkli sitzen, denn wenn man heute in Rente geht, hat man noch die Energie, um etwas zu lernen oder etwas zu leisten. Ich hoffe, dass das vermehrt in ehrenamtlichen Einsätzen geschieht.

Kasten 1

Zukunftsphilosoph

Der bevorstehende Jahreswechsel ist der ideale Zeitpunkt, um sich Gedanken über die Zukunft zu machen. Was wird uns 2012 bringen? Wohin steuert unsere Gesellschaft? Fragen, die zum Alltag des Zukunftsphilosophen Andreas Giger gehören, der aus Schaffhausen stammt. Giger bezeichnete sich zuerst als Zukunftsforscher, rückte dann aber von diesem Begriff ab und nennt sich heute bescheidener Zukunftsphilosoph. Auf der Basis seiner reichhaltigen Erfahrungen in der Sozialforschung macht sich Giger heute Gedanken über den Wertewandel, der, so sagt er voraus, weg von rein materiellen Bestrebungen zu mehr Lebensqualität führen wird. (B.O.)

Kasten 2

Andreas Giger

Einst gehörte er zu den grossen Hoffnungen der Schaffhauser SP: Andreas Giger (60) war in seinen jungen Jahren ein politischer Senkrechtstarter, zuerst Parteisekretär, später Mitglied des Grossen Stadtrates und des Kantonsrats. 1980 kandidierte er für den Schaffhauser Stadtrat, wurde aber knapp nicht gewählt. Der promovierte Sozialwissenschaftler war unter anderem in der Meinungs- und Marktforschung tätig, arbeitete als Journalist und ist heute selbstständiger Buchautor. Seit 20 Jahren wohnt er im Kanton Appenzell Ausserrhoden. Dort spielt auch sein 15. Buch, ein Krimi mit dem vielversprechenden Titel „Eine Leiche in der Bleiche“, in dem es unter anderem um das Rezept für die Herstellung des berühmten Appenzeller Käses geht. (B.O.)

Legende 1

Andreas Giger erwartet eine Zeit mit weniger materiellen Gütern und mehr Lebensqualität. (Fotos: Peter Pfister)

Legende 2 (Actionbild)

Der aus Schaffhausen stammende Zukunftsphilosoph lebt und arbeitet im idyllischen Appenzellerland, in dem auch sein 15. Buch, ein Krimi, spielt.

Legende 3

Andreas Giger: „Ich traue den Menschen eine gewisse Lernfähigkeit zu.“

Quote:

»Wir werden bescheidener leben«

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