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Von Thailand und anderen Abenteuern

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Werte in der Krise?

hasler

Ein Gastbeitrag zu einem zentralen Thema von spirit.ch

Ein Präludium von Ludwig Hasler anlässlich des Festakts „40 Jahre Anwaltskanzlei Schoch, Auer & Partner. 23. 9. 2010 im Pfalzkeller St. Gallen“

WERTE IN DER KRISE?

Mit den Werten ist es wie mit der Liebe: Über beide reden wir erst, wenn sie kriseln. Wenn es brenzlig wird – Finanzkrise, politische Vertrauenskrise, Jugendgewalt etc. – , fragen wir: Wo bleiben die Werte? Zurück zu den Werten! Werte als letztes Aufgebot, wenn Politik und Recht nicht mehr greifen. Toll an Werten ist: Sie bändigen von innen her, also gratis, nicht über teure Polizeipräsenz. Prima. Bloss: Welche Werte? Die alten Tugenden? Anstand, Rücksicht, Redlichkeit? Im Klartext: Triebverzicht? Was hat man davon? Einst die Aussicht aufs Himmelreich. Heute? Macht der Tugendhafte wenigstens irdisch Karriere? Kriegt er eine attraktive Frau? Eher ausnahmsweise. Als Triebbremsen wirken Tugenden selten sexy. Eher als List der Schwachen, die Starken auszuhebeln (sagt Nietzsche), den Vitalen die Vitalität (Lust, Gier, Bereicherung) madig zu machen? Dabei begann die Tugend ganz anders, griechisch als „aretè“, als Merkmal des „aristos“, des Besten, Stärksten, des Entwickeltsten – geistig, körperlich, sozial. Können wir dahin zurück? Tugend nicht als Bravheitspflaster, Werte nicht als Entfaltungsdämpfer – sondern als raffinierte Vitalisierer? Mal sehen. Hier eine Handvoll Thesen zum Thema „Die Krise und die Werte“:

These 1. Ohne Krise keine Werte.

Der Mensch ist krisengeboren. Paradies, Sündenfall. Warum biss Eva in den Apfel? Fresssucht? Gesundheitswahn? Sie hatte das ewige Einerlei im Paradies satt. Sehnte sich nach Freiheit, Lust, Drama. Die Schlange: Greif zu, Eva – und du wirst frei, schlau, leidenschaftlich! Die Sünde hat sich gelohnt. Der Preis: permanente Instabilität. Eva brach mit dem paradiesischen Wertesystem – sie wollte ihre eigenen Werte. Seither leben wir riskant. Aus dem Paradies gekippt, stolpern wir (eher instinktfrei) die Evolutionsleiter hinan. Damit wir uns nicht komplett verstolpern, dienen uns Werte als Geländer. Nur, auf jeder neuen Stufe müssen wir das Geländer neu zimmern. Die Übergang (Globalisierung, Technologieschübe) gelingen oft nur, wenn alte Werte ausser Kraft gesetzt werden… Will sagen: Fortschritt und Werte laufen nicht harmonisch Hand in Hand, eher nach Joseph Schumpeters Gesetz der kreativen Zerstörung. Ungemütlich. Mit der Freiheit hört die Gemütlichkeit auf.

These 2. Eine Freiheit, die nicht missbraucht werden kann, ist keine.

Die alte Frage: Warum schaut Gott zu, wie wir in Krisen, Pannen, Katastrophen stolpern? Antwort: Er nimmt unsere Freiheit ernst – weil nur Freiheit Werte schöpft auf diesem Planeten. Risiken inklusive. Eine Freiheit, die nicht missbraucht werden kann, ist gar keine. Also sollten wir nicht göttlicher sein als Gott und der Freiheit ihren Spielraum lassen – vorausgesetzt, sie bindet sich an Verantwortung. Verantworten heisst: eine Antwort parat haben, falls die Sache schief läuft.

Statt auf Freiheit und Verantwortung setzen wir heute auf Sicherheit. Der Rechtstaat wandelt sich zum Präventivstaat. Nichtrauchergesetze, 12-Jährige im Kindersitz (mit 14 erhalten sie dafür Präservative), Babysitten nur mit staatlicher Lizenz, alle 500 Meter ein Defibrillator. So schützt der Staat die Bürger nicht nur voreinander, sondern vor sich selbst: vor Raucherhusten, Cannabisdusel, nächtlichem Sandwichkonsum, Erotik am Arbeitsplatz. „Prävention“ steht für die schöne Redensart, dass das Kind gar nicht erst in den Brunnen fallen soll. Darf man deshalb alle Brunnen versiegeln? Kinder an die Leine legen? Rechtfertigt das Verhindern potentieller Pechfälle die Beschränkung der Freiheit? Vorbeugemanie lähmt Freiheit und Verantwortung – und ist die hohe Schule egozentrischer Biederkeit. Die Botschaft der Sicherheitsfreaks lautet: Sorge zu dir, schau auf dich, achte auf deine Fitness; du darfst doof, langweilig, unproduktiv sein – bloss nicht rauchen, nie über die Schnur hauen. Erziehung zur Spiessigkeit. Der Spiesser kennt keine Werte. Er kennt nur sein mickriges Ich, das er billig über die Runden bringen will. Spiessertum (die neue „Moral“) erodiert die Werte. Die beginnen dort, wo wir von uns absehen – hin auf etwas Grösseres, Wichtigeres, Gemeinsames.

These 3. Stilbildend in Wertsachen sind Eliten.

Wo die Macht ist, da ist oben. Wo die Ohnmacht ist, da ist unten. So wird es sein bis zum Jüngsten Tag. Falls das trotzdem einigermassen gut gehen soll, braucht es dazwischen etwas verbindlich Verbindendes, einen normativen Kitt, worin sich jeder wiederfindet, der Erste und der Letzte.

Genau das wird von oben aufs Spiel gesetzt. Paradefall Abzockerei. 71 Millionen für den CS-Chef. 50 Millionen für Novartis-Boss. Klar, ein Herkules-Job, 70 000 Mitarbeiter zu führen. Aber was genau macht Vasella? Schafft er eine neue blutdrucksenkende Pille im Alleingang? Das tun seine Forscher. Management ist Teamwork. Also ist die solistische Zurechnung reine Willkür. In diesem absurden Theater verlieren Normalmenschen den Glauben, gehe es in der Leistungsgesellschaft einigermassen gerecht zu. Und mit diesem Glauben geht manches bachab. Zunächst betrieblich: Beschäftigte identifizieren sich weniger mit dem Arbeitgeber, kommen sich für dumm verkauft vor, ihre Motivation sinkt. Sodann gesellschaftlich: Wähler stärken radikale Parteien oder verabschieden sich aus dem politischen Prozess, berauschen sich an ihrer eigenen Unlogik (Minarett-Initiative). Bürger beuten staatliche Leistungen aus, weil sie die Selbstbedienung in Chefetagen für gesellschaftliche Normalität halten. – Kurz und übel: Werte müssen von Eliten vorgelebt werden. 

These 4. Mehr Ethik? Reziproker Egoismus funktioniert besser.

„Kapitalismus ist der aussergewöhnliche Glaube, dass die widerwärtigsten Männer auf Grund widerwärtigster Motive irgendwie für den Nutzen aller arbeiten.“ Das stammt nicht von Marx, sondern von John Maynard Keynes, dem grossen liberalen Ökonomen. Für Systemkritiker ist klar: So ist die Selbstzerstörung programmiert. Weshalb sie die „unsichtbare Hand“ entmachten – und das Regime dem Staat und/oder der Ethik übertragen wollen. Beides schon dagewesen – mit wenig verlockenden Folgen.

Fruchtbarer wäre, Adam Smith  neu zu lesen. Seine Genialität: Er wies nach, dass auch schlechte Motive zu guten Ergebnissen führen können. Der Bäcker backt Brot nicht aus Altruismus. Die Raffgier des Reichen schafft Wohlstand für viele, die ihnen egal sind. Für Geld tun die Leute alles – auch das Gute. Sofern, sagt Adam Smith, eine „Grundsympathie mit dem Glück der Andern“ herrscht. Trockener formuliert: Wir sollen unseren Egoismus nicht krampfhaft bekämpfen (schaffen wir eh nicht); es reicht, dass wir ihn entblöden – zum „reziproken Egoismus“, der so klug ist zu wissen: Wenn ich dafür sorge, dass es möglichst allen um mich herum gut geht, geht es mir selber am besten. Ethik? Eher das Rezept kluger Geschäftsleute.

These 5. Zurück zum Vergnügen an irdischen Gütern.

Erwuchsen die jüngsten Krisen aus allzu irdischer Lustbarkeit? Eher aus Vernachlässigung irdischer Konditionen. Schuld war Bodenlosigkeit, waren Luftnummern (à la Wahn, aus Schulden armer Schlucker tolle Renditen zu ziehen). Das war hors sol, überirdisch – wie überhaupt die Trennung des Finanzbusiness von der (mitleidig sogenannten) Realwirtschaft. Die Kur ergibt sich so von selbst: zurück zu den irdischen Freuden. Kürzlich wollten Banker von mir was über Ethik hören. Ich sagte, dafür seid ihr eh verloren. Geht zum Weinbauern, schaut, wie die Rebe wächst, wie ihre Himmelwärts-Ambitionen beschnitten werden, wie lange der Wein braucht, bis er köstlich wird. Dann geniesst ihn. Und überlegt euch: Wäre es nicht befriedigender, die Bank als Bewässerungssystem für die Realwirtschaft zu betreiben?

These 6. Moral ist gut, Recht ist besser.

Nochmals Finanzkrise. Da sagten alle: Jetzt aber Schluss mit Gier. Wie denn? Gieren ist menschlich. Der moralische Appell verpufft. Manche Banker sind wieder dran, als hätten sie nicht Milliarden verzockt, das globale Finanzsystem lahmgelegt, die Volkswirtschaft in den Schlamassel gezogen. Logisch, es wurde ja kaum einer zur Rechenschaft gezogen. Juristisch, sagt man, gebe es keinen Hebel. Obwohl sie die Sorgfaltspflicht krass verletzten.

So erodiert der Wertekosmos. Die Grenze zwischen Recht und Unrecht verwischt. Das Rechtssystem ist (nach Emile Durkheim) nicht nur dazu da, Rechtsbrecher zu bestrafen, es muss ein „Gerechtigkeitstheater“ aufziehen. Ein Theater inszenieren, in dem sich die Gesellschaft permanent ihre eigene Werteordnung vor Augen führt. Baut ein Baumeister schlampig und das Haus stürzt ein, haftet er, muss das Haus auf eigene Kosten neu bauen. Eine Clique von Investmentbankern handelte mindestens so schlampig, schädigte die halbe Weltbevölkerung – bloss halt nicht mit voller Absicht (muss man dem Baumeister Vorsätzlichkeit nachweisen?). Keine Absicht, kein Paragraph. Nur, das „Gerechtigkeitstheater“ büsst an Glaubwürdigkeit ein. Irgendwann glauben nur noch die Dummen, dass Anstand und Sorgfalt sich lohnen.

These 7. Es gibt nichts Gutes, ausser man tut es.

Als ich nicht recht wusste, wie ich dieses Präludium beenden sollte, ging ich auf meine Lieblings-Internetseite „Riesenmaschine.de“ und fand „Free Repair“, ein Projekt des Schweizers Roland Roos. Der reiste (siehe rolandroos.net) zwei Jahre lang durch Europa und reparierte Kaputtes. Eine zerschlagene Toilettentür in Bratislava, eine defekte Parkbank in Berlin, verbogene Dachrinnen in Oslo – Roos sah diese Dinge, fotografierte sie, reparierte alles über Nacht, fachmännisch, makellos, gratis.

Nicht jedermanns Sache. Aber einmischen muss sich unbedingt, wer für Werte plädiert. Statt zu erwarten, der Bundesrat bringe mit ein paar Faustregeln die Welt in Ordnung. Die Welt ist viel zu bunt, zu chaotisch, die Welt sind wir, Werte sind genau so viel wert, wie wir sie im Alltag fördern, verteidigen, vernachlässigen. Wer Werte fordert, dem antworte ich: Okay, und was tust Du für sie? Ich denke weniger an die „Wohltätigkeit“ der US-Milliardäre (Warren Buffett, Bill Gates u.a. verschenkten ihr halbes Vermögen). Eher an einen pragmatischen Idealismus: Einsatz in der Nachbarschaft, im Dorf, der Stadt. Kümmere dich um das, was in der Gesellschaft passiert, blick über deine Geschäfte hinaus! Wer sich nur um seine eigene Bilanz kümmert, soll in der Wertedebatte die Klappe halten.

Ludwig Hasler: Dr. phil., geb. 1945, Journalist, Philosoph, Kunstsammler, war Mitglied der Chefredaktion beim «St. Galler Tagblatt», dann bei der Zürcher «Weltwoche». Heute arbeitet er als Publizist, «Weltwoche»-Autor, Hochschuldozent für Philosophie und Medientheorie. 

Von Ludwig Hasler soeben erschienen: Des Pudels Fell. Neue Verführungen zum Denken. Huber Verlag 2010. Mehr Informationen zu diesem Buch und Bestellmöglichkeit hier.

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