LebensQualität generell (1)

LQ generell: „Wörtlich“ und „Denk-Bar“
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Wörtlich

Bei spirit.ch verzichten wir bewusst auf eine Definition von Lebensqualität, denn
Lebensqualität lässt sich nicht definieren, aber empfinden.
Die Hinwendung zu Lebensqualität bedeutet eine Akzentverschiebung von Quantität zu Qualität. Qualität lässt sich weder definieren noch messen. Doch wir Menschen haben ein untrügliches Gespür für Qualität – und damit auch für unsere Lebensqualität.
Bei Wikipedia, der freien Enzyklopädie, finden wir dagegen diese Definition:
Mit dem Begriff Lebensqualität werden üblicherweise die Faktoren bezeichnet, die die Lebensbedingungen in einer Gesellschaft beziehungsweise für deren Individuen ausmachen.
Hier haben wir es mit einem objektivierenden Ansatz zu tun: Es geht um äußere Faktoren, welche die Lebensqualität der Individuen bestimmen. Allerdings gibt Wikipedia gleichzeitig auch eine stärker subjektive Umschreibung von Lebensqualität:
Im allgemeinen Sprachgebrauch wird mit Qualität des Lebens vorwiegend der Grad des Wohlbefindens eines Menschen oder einer Gruppe von Menschen beschrieben.
Diese Auffassung deckt sich mit unserer: Nur das Individuum kann bestimmen, wie gut seine Lebensqualität ist. Auch die WHO, die Weltgesundheitsorganisation der UNO, betont diesen Aspekt:
„Lebensqualität ist die subjektive Wahrnehmung einer Person über ihre Stellung im Leben in Relation zur Kultur und den Wertsystemen in denen sie lebt und in Bezug auf ihre Ziele, Erwartungen, Standards und Anliegen.“
So furchtbar kompliziert das klingt, so klar ist die Aussage: Nur der einzelne Mensch kann die Maßstäbe bestimmen, nach denen er seine Lebensqualität einstuft:
Interessant ist ein Rückblick auf die Geschichte des Begriffs:
Der Begriff Quality of Life wurde erstmals in den 1920er-Jahren von Arthur Cecil Pigou verwendet. Der US-Präsident John F. Kennedy benutzte ihn Jahrzehnte später in einer Rede zur Lage der Nation. Populär wurde der Begriff erst in den 1970er-Jahren. Im deutschen Sprachraum gehörte der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt den Quellen zufolge zu den ersten, die ihn öffentlich benutzten, und zwar in einer Regierungserklärung. In der Medizin spielt er seit den 1980er-Jahren eine größere Rolle.
Zum deutschen Sprachraum ist anzumerken, dass der Begriff Lebensqualität Anfang der Siebziger Jahre zunächst von den deutschen Gewerkschaften aufgegriffen wurde, die realisiert hatten, dass es nicht genügte, immer nur höhere Einkommen zu fordern. Willy Brandt hat diesen Gedanken dann aufgegriffen, und so kam der Begriff Lebensqualität damals auch bald etwa in die Schweiz (siehe auch Kapitel „Eigen-Sinniges“).
Wie wir am Beispiel der deutschen Gewerkschaften sehen, geht es seit der Einführung des Begriffs Lebensqualität immer auch um die Unterschiede bzw. Zusammenhänge zwischen Lebensstandard und Lebensqualität. Wikipedia fasst die diesbezüglichen Erkenntnisse so zusammen:
Wirtschaftswachstum als Wohlfahrts- bzw. Lebensqualitätsindikator heranzuziehen kann zu verzerrten wirtschaftspolitischen Maßnahmen führen. Wirtschaftswachstum und steigende Einkommen bedeuten nämlich nicht zwangsläufig eine höhere Lebensqualität.
Easterlin konnte nachweisen, dass im Westen zwar das Pro-Kopf-Einkommen in den letzten Jahrzehnten beträchtlich gestiegen ist, dass das aber wenig Einfluss auf das subjektiv empfundene Wohlbefinden der Bürger hatte (Easterlin Paradox). In Japan hat sich im Zeitraum von 1958 bis 1991 das Bruttoinlandprodukt versechsfacht, die durchschnittliche Lebenszufriedenheit blieb konstant. Das BIP der USA stieg in der Zeit von 1970 bis Mitte der 90er Jahre um 20 %, während das subjektive Wohlbefinden leicht gesunken ist. Für ein Sample von zwölf europäischen Ländern konnte im Zeitraum 1975 bis 1991 kein signifikanter Zusammenhang zwischen BIP und Lebenszufriedenheit festgestellt werden. In China konnte in den Jahren 1994 bis 2005 das reale Pro-Kopf-Einkommen um den Faktor 2,5 gesteigert werden, die Lebenszufriedenheit ist aber gesunken.
Lebensqualität als wirtschaftspolitische Leitgröße hätte das Potenzial einen Wachstumsschub vergleichbar mit jenem der Informations- und Kommunikationstechnologie auszulösen.
Fassen wir zusammen: Höherer Lebensstandard bedeutet keineswegs bessere Lebensqualität. Und: Es wäre gescheiter, Lebensqualität zur wirtschaftspolitischen Leitgröße zu erheben.
Im selben Wikipedia-Artikel findet sich auch eine schöne Zusammenfassung meiner eigenen ersten Studie über Lebensqualität aus dem Jahr 2004:
Bis in die 70er Jahre verlief das Leben in vorgegebenen Bahnen. Kirche, Staat und Gesellschaft gaben einen Kanon von Werten vor. Das bedeutete für den Einzelnen viel Orientierung aber wenig Optionen. Ab den 70er Jahren setzte ein starker Trend der Individualisierung ein, der viel Optionen beinhaltete, dafür aber aufgrund des daraus entstandenen Werteuniversums wenig Orientierung bietet. Lebensqualität eignet sich als idealer Leitwert, weil es im Gegensatz zu den teilweise sehr ideologisch geprägten Werten die Fähigkeit hat zu verbinden (kollektiver Aspekt), und gleichzeitig individuelle Spielräume lässt.
Welche Rolle Lebensqualität als neuer Leit-Wert im Zuge des Wertewandels und der Individualisierung spielt und noch spielen wird, erfahren Sie im nächsten Kapitel.
Wichtig ist zur Einstimmung auf den Begriff noch dieser Aspekt:
Lebensqualität ist nach allgemeiner wissenschaftlicher Auffassung ein multidimensionales Konstrukt, das nicht direkt erfasst, sondern nur in seinen Teilbereichen über Indikatoren abgebildet werden kann.
Zur Messbarkeit von Lebensqualität gibt es unterschiedliche theoretische Ansätze. „Die Objektivisten gehen von der Grundannahme aus, dass es identifizierbare Grundbedürfnisse gibt, deren Befriedigung das Wohlbefinden bestimmt. Die beobachtbaren Lebensverhältnisse können von Außenstehenden nach wissenschaftlichen beziehungsweise moralischen Standards bewertet werden.“ Diese Theorie hat Eingang in die Politik der so genannten Wohlfahrtsstaaten gefunden.
Die Subjektivisten betonen dagegen die individuelle Wahrnehmung der eigenen Lebenssituation. „Die amerikanische Quality of Life-Forschung ist der Auffassung, dass Lebensqualität im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung zunehmend durch immaterielle Werte bestimmt wird. Da Glück, Zufriedenheit und Ängste aber nur durch die Bürger selbst beurteilt werden können, muss auch die Messung der Lebensqualität durch deren Befragung erfolgen.“ Diese Befragung kann z. B. so genannte Glücksindikatoren ermitteln, mit denen das subjektive Wohlempfinden in eine über Zeit und Ort vergleichbare Zahl gebracht wird.
Wir lernen daraus: Lebensqualität hat viele Facetten. Und wir schlagen uns klar auf die Seite der Subjektivisten: Nur das Individuum selbst kann bestimmen, was für es Lebensqualität bedeutet – und wie weit diese Erwartungen erfüllt sind.