Offene Weite

Die Zukünfte der Religionen aus der Sicht von spirit.ch
Im Kirchenblatt für die Evangelisch-reformierten Kirchgemeinden beider Appenzell (Schweiz), MAGNET, publizierte spirit.ch-Gründer Andreas Giger diesen Beitrag über die Zukünfte der Religionen:
Offene Weite
Die Zukünfte der Religion
»Düstere Zukunft für Reformierte«. So betitelte die NZZ am Sonntag vom 4. April 2010 ihren Bericht über eine vom Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund (SEK) in Auftrag gegebene religionssoziologische Studie. Deren zentrale Aussage lautet: Geht die Entwicklung so weiter, verliert die reformierte Kirche bis ins Jahr 2040 rund ein Drittel der heutigen Mitglieder. Der Anteil der Protestanten an der Schweizer Bevölkerung würde dannzumal noch 20 Prozent ausmachen.
Um das Jahr 1900 betrug dieser Anteil noch stolze 60 Prozent (heute sind es rund 30 Prozent). Dieser Schrumpfungsprozess wird also weitergehen, er ist laut Studie unausweichlich. Trübe Aussichten also für die Zukunft der Religion – jedenfalls aus reformierter Sicht.
Nun können Prognostiker allerdings auch irren. Vor vierzig Jahren, an der Schwelle zu meinem Erwachsensein, war ich wie viele Zeitgenossen überzeugt davon, Religion würde über kurz oder lang sanft entschlafen, weil aufgeklärte Menschen kein Bedürfnis danach empfänden. Selten so geirrt…
Von einer »Wiederkehr der Religion« sprechen die Medien gar. Geprägt wird diese Wahrnehmung sicher zu wesentlichen Teilen von der Erstarkung des Islam auch in unseren Breitengraden. Und weitet man den Blick etwas, stellt man mit Erstaunen fest, dass ausgerechnet in Südamerika ausgerechnet radikale Spielformen des Protestantismus derzeit enormen Zulauf haben. Womit schon klar ist: So etwas wie eine einheitliche Zukunft der Religion gibt es nicht. Wie diese Zukunft aussieht, ist eine Frage der Perspektive des Betrachters.
Auf unser Land bezogen hält die erwähnte religionssoziologische Studie übrigens die These von der Wiederkehr der Religion für ein blosses Medien-Gerücht, es könne keine Rede davon sein, dass in der Schweiz heute Religiosität mehr gelebt werde als früher. Womit sich nochmals eine neue Perspektive eröffnet: Ist Religiosität leben dasselbe wie religiös sein?
Und um die Verwirrung vollständig zu machen, geistern in den Debatten um die Zukunft der Religion auch munter verwandte, aber eben doch nicht identische Begriffe wie Spiritualität, Sinnsuche oder christliche Werte durch die Gegend. Wie soll man da noch den Überblick behalten?
Religion braucht Resonanz
Am besten aus einer gewissen Distanz. Und da die Zukunft in der Vergangenheit wurzelt, lohnt sich zunächst ein Blick zurück auf das, was die Historiker als Säkularisierung bezeichnen. Deren wichtigste Konsequenz ist ganz einfach: Niemand muss heut zu Tage mehr religiös sein. Jedenfalls hier zu Lande. Andernorts wird der Austritt aus einer Religion noch immer mit dem Tod geahndet. So weit liegt das auch bei uns noch nicht zurück, wenngleich das Todesurteil später eher aus sozialer Ächtung bestand, wenn jemand es wagte, sich von der vorherrschenden Religion zu distanzieren.
Nur wenige Verbohrte wünschen sich solche Zustände zurück, die meisten Menschen kennen und wollen nichts anderes als die Freiwilligkeit von Religion. Wenn man aber religiöse Botschaften den Menschen nicht mehr einfach durch sozialen Zwang einbläuen kann, sind diese Botschaften darauf angewiesen, bei den einzelnen Menschen eine Resonanz zu finden.
Ganz offensichtlich existiert in vielen Menschen ein Resonanzboden für solche Botschaften, sonst wären in den Zeiten der Freiwilligkeit alle religiösen und spirituellen Traditionen tatsächlich eines plötzlichen Todes gestorben. Dass dem nicht so ist, ja dass manche dieser Traditionen sogar aufblühen, macht deutlich, dass im Menschen, oder jedenfalls in vielen Menschen, tatsächlich so etwas wie ein Bedürfnis nach Religiosität oder Spiritualität angelegt ist.
Auf der Suche nach Sinn
Das kann ich aufgrund meiner eigenen Forschungen über Werte und Werte-Wandel nur bestätigen. Befragt werden dabei jeweils Menschen aus jener gesellschaftlichen Minderheit, die man als meinungsbildende Avantgarde bezeichnen könnte, denn wenn es um die Zukunft geht, ist das Meinungsspektrum dieser Gruppe besonders interessant (siehe www.spirit.ch).
Im Zentrum dieser Forschung steht der Begriff der Lebensqualität. Was Lebensqualität bedeutet, kann natürlich jeder Mensch nur für sich selbst beantworten. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten, zum Beispiel die, dass Lebensqualität viele Facetten hat. Wir haben diese Facetten zu sechzehn so genannten Lebensqualitäts-Sphären zusammengefasst. Eine dieser Sphären heisst in unserem Modell „Sinn“. Sie wird so umschrieben: Lebens-Sinn, Sinn-Quellen, Naturerleben, Spiritualität, Religion.
Fragt man nun die meinungsbildende Avantgarde, wie wichtig diese Sphäre des Sinns für ihre eigene Lebensqualität sei, dann erreicht sie sehr hohe Werte. Für ältere Menschen ist sie noch etwas wichtiger als für jüngere, für Frauen etwas wichtiger als für Männer, doch das ändert nichts daran, dass die Sinn-Sphäre für die eigene Lebensqualität eine bedeutsame Rolle spielt.
Allerdings verweist die Umschreibung dieser Sphäre darauf, dass Sinn heute keineswegs nur in der Religion gesucht und gefunden werden kann, und schon gar nicht in einer einzigen. Tatsächlich finden die Befragten Sinn (oder besser Sinne) hauptsächlich in sich selbst, in zwischenmenschlichen Beziehungen oder in der Natur. Religion und Spiritualität können zwar auch Sinn-Quellen sein, doch sie haben ihre dominante Rolle längst verloren.
Das Bedürfnis nach Sinn ist unzweifelhaft da und wird eher noch wachsen, zumal viele Menschen in der Finanzkrise noch einmal deutlich gespürt haben, dass der Mensch tatsächlich nicht vom Brot allein lebt, und der Tanz um das goldene Kalb in die Irre führt. Auch da lässt ein Blick auf die meinungsbildende Avantgarde hoffen: Unter allen sechzehn Lebensqualitäts-Sphären ist ihr die Sphäre der Materie am wenigsten wichtig.
Offene Zukunft
Wie weit die Menschen in Zukunft auf die klassischen Religionen zurückgreifen werden, um ihren Sinn-Durst zu stillen, kann letztlich niemand wissen. Fest steht allerdings, dass auf dem Markt der Sinn-Quellen ein Überangebot existiert, was es den klassischen Religionen schwer macht, genügend Aufmerksamkeit für ihre Botschaft zu finden. Zudem führt die Individualisierung dazu, dass sich jeder aus unterschiedlichen Sinn-Quellen sein eigenes Süppchen zusammenrührt. Vertreter einer reinen, mehr oder weniger geschlossen Lehre haben es da naturgemäss schwer.
Somit könnte die eingangs erwähnte Prognose einer weiter schrumpfenden reformierten Kirche durchaus Tatsache werden. Das wäre noch nicht das Ende der Religion, und noch nicht einmal jenes der reformierten Kirche. Denn auch eine verkleinerte Kirche kann ihren Einfluss auf die Gesellschaft behalten – wenn ihre Botschaft stimmt. Zum Beispiel jene von den christlichen Werten.
Eben diese Werte sind keineswegs am Absterben. Wie die Forschungen von spirit.ch zeigen, gehört etwa der Einsatz für eine bessere Welt für die meinungsbildende Avantgarde unbedingt auch zur eigenen Lebensqualität. Mehr und mehr Menschen werden also nach christlichen Werten leben – obwohl ihnen die Herkunft dieser Werte immer weniger bewusst ist.
Auch das ist nur eine von vielen möglichen Zukünften. Die Zukunft ist eine offene Weite, und gemacht wird sie immer auch von uns Menschen.
Andreas Giger, promovierter Sozialwissenschaftler mit Jahrgang 1951, lebt und arbeitet als unabhängiger Zukunfts-Philosoph in Wald AR. Er ist Mitbegründer von spirit.ch, der Plattform für Nachhaltige LebensQualität (www.spirit.ch).