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Von Thailand und anderen Abenteuern

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Ende des Wachstums?

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Gedanken zur Schweizer Abstimmung

»Die wirtschaftliche Nützlichkeit, mit der die Gegner der Vorlage argumentiert haben, hat breite Teile der Bevölkerung nicht erreicht. Vielleicht, weil die Menschen wieder nach anderen Werten im Leben suchen.«

Ueli Mäder, Ordinarius für Soziologie, Universität Basel, im „St. Galler Tagblatt“ vom 19.02.2014 zu den Gründen des Abstimmungsentscheids

So unerfreulich für die unterlegene „Minderheit“ die äusserst knappe Annahme des Volksbegehrens „gegen die Masseneinwanderung“ bei der Schweizer Abstimmung vom 9. Februar 2014 ist, so sehr regt dieser Entscheid auch zu spannenden Fragen und Gedanken an. Um es gleich vorwegzunehmen: Persönlich gehöre ich zur Minderheit von 49.7 Prozent, die Nein gesagt hat. Weil ich mich zwar als Schweizer empfinde, aber eben auch als Europäer, und deshalb keine Abschottungstendenzen mag. Und weil die Probleme absehbar waren, die sich jetzt im Verhältnis der Schweiz zur EU abzeichnen.

Dass die Wirtschaft im Vorfeld der Abstimmung heftig gegen das Volksbegehren aufgetreten ist, hat mich dagegen weniger beeindruckt. Und viele andere offenbar auch nicht. Das ist die eigentliche Sensation: Zum ersten Mal sind die Schweizerinnen und Schweizer bei einer wirtschaftspolitisch zentralen Entscheidung nicht den Empfehlungen der Wirtschaftsverbände gefolgt.

Bisher war der Reflex selbstverständlich: Wenn die Wirtschaft sagte, durch eine bestimmte politische Idee würde das Wachstum und damit der Wohlstand gefährdet, übernahm zuverlässig eine Mehrheit der Stimmenden diese Betrachtungsweise. Wohl gab es schon Mehrheiten, die von Ängsten vor Überfremdung kündeten, doch dabei handelte es sich, wie beim Minarett-Verbot, um reine Symbolpolitik ohne Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum.

Diesmal war es anders. Das Argument der Wirtschaft, sie brauche für ungestörtes Wachstum weiterhin eine ungebremste Zuwanderung, überzeugte die Mehrheit nicht mehr. Dabei ist kaum zu bestreiten, dass die Schweiz ihr in den letzten Jahren überdurchschnittlich hohes Wirtschaftswachstum zu wesentlichen Teilen der Zuwanderung verdankt.

 Massive Verschiebungen

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Vor fünf Jahren noch war das anders. Damals sagten 60 Prozent Ja zur Ausdehnung des freien Personenverkehrs auf Rumänen und Bulgaren, die dieses Votum kaum besonderen Sympathiewerten verdankten, sondern der Überzeugung, freie Einwanderung aus der EU und Wirtschaftswachstum seien untrennbar verbunden.

Glauben das fünf Jahre später wirklich zehn Prozent weniger? Oder wollen diese Meinungswechsler vielleicht gar kein ungebremstes Wachstum mehr? Die wahren Beweggründe für einen solchen Entscheid bleiben natürlich unergründlich. Doch die Frage, ob zunehmende Zweifel am Wachstumsglauben bei der doch sehr knappen Entscheidung eine Rolle gespielt haben könnten, ist berechtigt.

Direkte Angst vor Ausländern jedenfalls kann kaum den Ausschlag gegeben haben. Die höchste Zustimmung fand das Volksbegehren in ländlichen Gegenden, wo man kaum einem Ausländer begegnet – ein Phänomen, das man auch aus anderen Ländern kennt. Umgekehrt haben ausgerechnet jene Städte, in den sich am meisten Ausländer ballen, am deutlichsten Nein zur Abschottung gesagt.

Im Vorfeld der Abstimmung wurde häufig das Wort „Dichtestress“ benutzt. Dort, wo man diesen kennt und mit ihm umzugehen gelernt hat, sagt man Nein, dort, wo es den kaum gibt, sagt man Ja zur Abschottung. Auch dieses Phänomen ist nicht neu und hinlänglich bekannt.

Bedrohte Lebensqualität in Zwischen-Räumen

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Interessanter sind die Zwischen-Räume: Der eigentliche Meinungsumschwung fand in den Agglomerationen statt, in jeden Gemeinden rund um die Städte, die in den letzten zehn Jahren am stärksten vom Wandel betroffen waren. Aus heimeligen Dörfern wurden in kurzer Zeit anonyme Schlafstädte, aus denen die Einwohner in die grossen Zentren pendeln und dabei zunehmend überfüllte Verkehrsmittel erleben. Hier werden Wirtschaftswachstum und seine Folgen unmittelbar spürbar.

Viel gebracht in Form eines höheren Lebensstandards hat dieses Wachstum den einzelnen Menschen nicht. Dafür haben die negativen Folgen dieses Wachstums vielen eine Einbusse an Lebensqualität beschert. Und sie damit vermutlich zur Frage bewegt, ob Wachstum um jeden Preis wirklich noch ein sinnvolles Ziel der Politik sein kann.

Höherer Lebensstandard bringt keine bessere Lebensqualität mehr hervor, sondern im Gegenteil oft eine schlechtere. Diesen Preis zu bezahlen sind offenbar weniger Menschen bereit als auch schon. Und kommen dann auf die Idee, Ja zu einem Vorschlag zu sagen, der die Einwanderung begrenzen will, weil sie die ungebremste Einwanderung als Bedrohung ihrer Lebensqualität empfinden.

Symbol für Werte-Wandel

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Ob der konkrete Volksentscheid ein taugliches Mittel ist, diese Bedrohung beseitigen, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Umgekehrt gibt es auch keinen Grund zur Panik. Sehr viel weniger als die zuletzt rund achtzigtausend Einwanderer (netto, bei einer Bevölkerung von acht Millionen) wird die Schweiz auch in Zukunft nicht hineinlassen, weil diese Zuwanderer einen zentralen Beitrag zur Lebensqualität dieses Landes leisten.

Als konkreter Problemlösungsbeitrag taugt der jetzt getroffene Entscheid herzlich wenig. Als Symbol dafür, dass die von spirit.ch längst vorhergesagte Werte-Verschiebung vom Lebensstandard zur Lebensqualität auch in diesem reichen Land begonnen hat, dagegen sehr wohl…

Beachten und nutzen Sie zu diesem Thema auch unsere Kurzumfrage in der rechten Spalte unten!

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