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Von Thailand und anderen Abenteuern

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Die Werte-Republik

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Die Zukunft ist ungewiss, doch träumen von ihr darf man…

Ein Appenzeller Zukunfts-Traum

In magnet, dem Kirchenblatt für die Evangelisch-refor,ierten Kirchgemeinden beider Appenzell, erschien in der Ausgabe vom April 2013 dieser Text von Andreas Giger. Diese Ausgabe befasste sich mit dem Schwerpunkt-Thema „500 Jahre Appenzell Mitglied der Schweizerischen Eidgenossenschaft“. Der vorliegende Text wagt einen Ausblick hundert Jahre in die Zukunft…

Die Aufgabe schien unlösbar. »Beschreiben Sie, wie das Appenzellerland zur Zeit des sechshundertjährigen Jubiläums seines Beitritts zur Eidgenossenschaft aussieht! Ihnen als Zukunfts-Philosoph dürfte das doch leicht fallen…«

Denkste. Hundert Jahre voraus zu blicken, ist schlicht unmöglich. Man prüfe nur mal fünfzig Jahre zurück liegende Prognosen für unsere Zeit. Auch der Zukunfts-Philosoph hat keine Kristallkugel im Keller. Und selbst eine meiner Kernkompetenzen – die Entwicklung von Visionen – hilft da nicht weiter. Eine Vision bildet immer jenen Punkt in der Zukunft ab, an dem sich wünschbare und denkbare Entwicklungen treffen. Was aber in hundert Jahren denkbar sein wird, ist gänzlich ungewiss. Oder hätten Sie vor einem Vierteljahrhundert für denkbar gehalten, was mittlerweile aus dem Internet geworden ist?

Bleibt nur, sich wünschbare Zukünfte auszumalen. Denn es gilt weiterhin, was ich in meinem letzten MAGNET-Beitrag geschrieben habe: »Es gibt viele mögliche Zukünfte. Die Zukunft ist eine offene Weite, und gemacht wird sie immer auch von uns Menschen.« Es hilft dabei, wenn man weiss, welche Zukunft man sich erträumt.

Also träumte ich ein wenig vom Appenzellerland in hundert Jahren.

Von ARAI zu App

Zunächst sah ich eine radikale Verkürzung der Bezeichnung für den geografischen Raum, um den es geht: von Appenzellerland über Appenzell bis zu App. Und die Bewohner dieses auch in hundert Jahren noch wunderschönen Landstrichs heissen Appis. Dass sie damit in die Nähe von Apple und Smartphone-Apps gerückt werden, stört sie nicht. Im Gegenteil. Mit moderner Technik haben sie nämlich, wie schon lange, durchaus etwas am Hut.

Sie ermöglicht es den Appis (Sie sehen, in meinem Traum habe ich den sich schon heute abzeichnenden Trend zur Sprachverkürzung voll übernommen), von App aus mit der ganzen Welt verbunden zu sein. Aus der Wissensgesellschaft ist längst eine Bewusstseins-Gesellschaft geworden, und darin spielt der Ort, an dem man sich gerade aufhält, je länger je weniger eine Rolle. Wer also in App lebt und in vielen Fällen auch von zuhause aus arbeitet, hat sich bewusst für diesen Lebensraum entschieden.

Dieser Lebensraum wird je nach Situation ganz unterschiedlich empfunden. Mal besteht er aus den eigenen vier Wänden und Umgebung, mal aus dem eigenen Weiler oder Dorf, dann wieder aus einem Umkreis von ein paar Kilometern. Manchmal ist mit Lebensraum die Schweiz gemeint, oft auch Europa, und zunehmend die ganze Welt.

Und mittendrin gibt es auch noch den Lebensraum App. Das ist kein Kanton mehr im eigentlichen Sinne, weil es solche Kantone nicht mehr gibt. In einer immer komplexer werdenden Welt hat man gelernt, dass eine Gemeinschaft am besten funktioniert, wenn man Entscheidungsstrukturen flexibel gestaltet. Je nach Thema entscheiden deshalb in meinem Traum unterschiedliche geografische Räume flexibel über die anstehenden Fragen. Mal ist es immer noch ein Dorf für sich, mal aber auch ein ganzer Kontinent wie Europa.

Die alten Grenzen der Entscheidungsräume sind damit sehr durchlässig geworden. Sie existieren noch, vor allem auch im historischen Gedächtnis, doch die beiden alten Halbkantone spielen als solche keine grosse Rolle mehr. Auch nicht als vereinigter Kanton Appenzell. Den gibt es zwar noch, weil irgendwann eine Kantonsteilung, die aufgrund konfessioneller Spaltung entstanden war, einfach nur noch lächerlich schien. Diese Einsicht kam allerdings zu spät, denn sie reifte erst in einer Zeit, als sich der Kantönligeist gezwungenermassen bereits weitgehend verflüchtig hatte.

Geblieben aber ist der Lebensraum App, dessen Bewohner neben der Landschaft und den Traditionen vor allem eines verbindet: geteilte Werte.

Nachhaltige Lebensqualität

Werte sind auch in hundert Jahren das, was den Menschen etwas wert ist, was wichtig ist in ihrem Leben. Im Jahr 2113 sind sich die Menschen, die sich bewusst und freiwillig für App als Lebensraum entschieden haben, darüber einig, worum es in ihrem Leben geht: um nachhaltige Lebensqualität.

Auch in meinem Traum verstehen die Menschen keineswegs alle dasselbe unter Lebensqualität. Noch immer gehören zum Beispiel für viele solche Werte dazu, die nur eine Stadt bieten kann, etwa Tempo, Abwechslung, Reize. Den Appis dagegen sind andere Werte wichtiger, etwa Ruhe, Raum, landschaftliche Schönheit, Naturnähe, Überschaubarkeit.

Auch im zwischenmenschlichen Bereich bevorzugen sie die dörfliche Variante von Lebensqualität, die weniger, dafür verbindlichere Beziehungen bedeutet. Die Appis lieben nach wie vor ihre Freiheit und gehen gerne ihre eigenen Wege. Wenn sie nach einem Ausflug in die Stadt zurückkommen, sind sie froh, der dort allgegenwärtigen Überwachung durch Kameras und Drohnen zu entkommen.

Die Appis von 2113 teilen also viele Werte, doch ansonsten verwirklichen sie auf sehr individuelle Weise ihre Vorstellung von Lebensqualität. Das hat, guter appenzellischer Tradition folgend, manchmal etwas Skurriles und Schrulliges. Doch weil die Appis um ihre eigene Schrulligkeit wissen, begegnen sie der Skurrilität der anderen mit gegenseitigem Respekt. Was das Zusammenleben sehr angenehm macht.

Zu den gemeinsamen Überzeugungen der Werte-Republik App, wie dieser Lebensraum jetzt ganz offiziell heisst, gehört es auch, dass Lebensqualität nachhaltig sein muss. Nachhaltiges Denken und Handeln gehörte zu den Charakteristika dieses Landstrichs, lange bevor es das Wort gab. Die Appis in meinem Traum haben mit dem Wert Nachhaltigkeit das gemacht, was sie mit allen Traditionen tun: Sie erfassen ihre Essenz und interpretieren sie neu und zeitgemäss. Kein Wunder also, dass App in den letzten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts zu einem eigentlichen Experimentierfeld für eine nachhaltige Wirtschaft und Gesellschaft geworden ist.

Erfahrungs-Kirche

Einheit in der Vielfalt. Diesem Geheimnis ist man in App von 2113 in jeder Beziehung näher gekommen, auch in religiöser. Religiöse Vielfalt ist längst selbstverständlich geworden. Zwar ist vor einigen Jahren ausgerechnet eine Innerrhödlerin zur ersten Päpstin gekürt worden, doch auch das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass organisierter Glauben hier zu Lande keine grosse Rolle mehr spielt.

Die reformierte Kirche von App gibt es dennoch noch immer – weil sie sich reformiert hat. Sie hat neue Kernkompetenzen entwickelt. Die eine besteht darin, Menschen zusammenzubringen, die bestimmte Werte teilen, und ihnen ein Gefühl von Gemeinschaft zu vermitteln. Sie bildet eigene Werte-Gemeinschaften innerhalb der Werte-Republik App.

Die andere Kernkompetenz beruht auf einer Einsicht: Erfahrungen auf der Sinnsuche sind immer persönlich und lassen sich somit nicht verallgemeinern. Doch man kann sich darüber austauschen. Und dabei sind Menschen einer Kirche hilfreich, die zwischen individuellen religiösen oder spirituellen Erfahrungen übersetzen können. Genau das tut die reformierte Kirche von App äusserst erfolgreich, und da Grenzen keine grosse Rolle mehr spielen, sogar weit über das kleine App hinaus.

Sie nennt sich dabei bewusst „Erfahrungs-Kirche“. Was auch ein Tribut an die Tatsache ist, dass App seit langem bevorzugter Lebensort von erfahrenen, sprich älteren Menschen geworden ist…

Andreas Giger, promovierter Sozialwissenschaftler mit Jahrgang 1951, lebt und arbeitet als unabhängiger Zukunfts-Philosoph in Wald AR. Er ist Mitbegründer von spirit.ch, der Plattform für Nachhaltige LebensQualität (www.spirit.ch) und Autor von Appenzeller-Krimis (www.appenzellerkrimi.ch)

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