Zukunft des Zusammenlebens

Eine Vorschau in den „Schaffhauser Nachrichten“
In einer Spezialbeilage der „Schaffhauser Nachrichten“ vom 9. April 2011 zum Thema „Formen des Zusammenlebens“ wurde diese fiktive Geburtstagsrede von Andreas Giger prominent publiziert.
Viele Wege – ein Ziel
Eine fiktive Geburtstagsrede zur Entwicklung des Zusammenlebens
Liebe Festgemeinde!
Es freut mich ungemein, dass Ihr Euch alle an diesem schönen Frühlingstag im Jahr 2021 zur Feier meines siebzigsten Geburtstags versammelt habt. Ihr werdet es einem alten Beobachter gesellschaftlicher Entwicklungsströme verzeihen, wenn er die Gelegenheit nutzt, einige grundsätzliche Betrachtungen darüber anzustellen, wie sich das menschliche Zusammenleben im letzten Jahrzehnt verändert hat. Schliesslich besteht ja ein wesentlicher Teil dieser Festgemeinde aus dem, was man gemeinhin als Familie bezeichnet.
Nun ist „Familie“ heutzutage bekanntlich ein vielschichtiger Begriff mit vielen Facetten und Bedeutungen, ohne klare Definitionen und Abgrenzungen. Das war nicht immer so. Noch zu Zeiten meiner Kindheit und Jugend bestand eine richtige Familie aus Vater und Mutter (selbstverständlich verheiratet) sowie zwei bis drei Kindern (selbstverständlich gemeinsamen). Dazu kamen noch Grosseltern, einige Tanten und Onkel sowie eine Schar von Cousins und Cousinen.
Wer zur Familie gehörte, liess sich leicht an einem klassischen Stammbaum ablesen. Bei der Heirat kam dann noch ein zweiter Familienstammbaum dazu, doch das war es dann auch schon, denn man blieb als Paar ein Leben lang zusammen. Scheidungen gab es zwar auch schon vereinzelt, doch geschiedene Leute standen im Ruch, das schwarze Schaf einer Familie zu sein.
Bis weit ins letzte Jahrhundert hinein war die Situation also sehr übersichtlich: Die meisten Menschen lebten in einer klar definierbaren Familie, der Rest allein, meistens unfreiwillig, nur in wenigen Fällen frei gewählt. Und wehe denen, die etwas anderes ausprobieren wollten: Bis in die Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts liefen im heute so liberalen Kanton Zürich unverheiratet zusammenlebende Paare Gefahr, wegen des Konkubinatsverbots angeklagt zu werden…
Ich weiss, liebe hier anwesende Kinder, dass eine solche Welt für Euch unvorstellbar ist, genau so wie eine Welt ohne Computer und Handys. Und doch gab es beides einmal, und diese Zeiten liegen so nahe an unserer Gegenwart, dass meine Altersgenossen und ich sie noch selber erlebt haben. Unsere Generation war es denn auch, die erstmals auf breiter Front aus diesem engen und starren Schema ausgebrochen ist. Sie glaubte zu wissen, dass die Beschränkung auf eine einzige Familienform dem Menschen nicht angemessen sei, und suchte deshalb nach Alternativen.
Erprobt wurden Kommunen und freie Liebe, Wohngemeinschaften und Dreiecksbeziehungen. Geheiratet wurde immer noch, doch nur noch auf Zeit. Die Scheidungsquoten stiegen, doch auch die Geschiedenen gründeten neue Familien. So entstand das, was man „Patchwork-Familie“ nennt: eine Familie, die nicht mehr aus einem einzigen, klar abgrenzbaren Stammbaum besteht, sondern aus unterschiedlichen Stoffstücken zusammengenäht ist.
Was eine Patchwork-Familie ist, wird in diesem Kreis sehr schön sichtbar. Meine beiden Kinder sind hier, und ihre beiden Mütter, mit denen ich jeweils eine Zeit lang verheiratet war. Meine dritte Frau, mit der ich jetzt schon über drei Jahrzehnte glücklich zusammen bin (ohne Trauschein), hatte schon zwei Kinder. Diese wiederum wuchsen wie Geschwister mit den zwei Kindern der besten Freundin meiner Liebsten auf, weshalb diese ebenfalls ganz selbstverständlich zur Familie gehören.
Für die beteiligten Kinder und deren Kinder war das die Familiensituation, die sie vorgefunden und deshalb als selbstverständlich betrachtet haben. Was ein gutes Stichwort für die Beschreibung der heutigen Familiensituation ist: Wir betrachten es zu Recht als selbstverständlich, dass es ein breites Spektrum unterschiedlicher Familienformen gibt.
Zu diesem Spektrum gehören heute auch gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften, aber auch das frei gewählte Alleinleben, auf Dauer oder für eine bestimmte Lebensphase. Überhaupt gestalten heute viele Menschen ihr Zusammenleben nach dem Abschluss einer bestimmten Lebensphase neu, weil sie wissen, dass es kaum eine Form des menschlichen Zusammenlebens gibt, die für ein ganzes langes Leben taugt.
Gerade in den letzten Jahren haben sich aus dieser Erkenntnis heraus neue spannende Formen des Zusammenlebens im Alter entwickelt. Weil Menschen im reifen Alter die grössten Individualisten sind, ist die Landschaft dieser reifen Wohngemeinschaften logischerweise bunt und vielfältig. Auch dafür gab es schon früher Vorläufer, doch so richtig in Gang gekommen ist diese Entwicklung erst dadurch, dass die Babyboomer, die schon in ihrer Jugend in Sachen Zusammenleben experimentierfreudig waren, jetzt in die Jahre gekommen sind, in denen sie ihre letzten Lebensphasen bewusst gestalten wollen.
Manche dieser neuen Wohn- und Lebensgemeinschaften älterer Menschen sondern sich bewusst ab, andere suchen ebenso bewusst nach neuen Möglichkeiten des Austausches zwischen den Generationen. Was daraus wird, lässt sich höchstens erahnen. Fest steht jedoch, dass das Zusammenleben der Generationen – innerhalb und ausserhalb der Familie – zu den spannendsten Herausforderungen dieser Zeit gehört.
Zurück zur Gegenwart und zur jüngeren Vergangenheit. Was mir bei deren Betrachtung auffällt, ist das, was man die Renaissance der klassischen Familie nennen könnte. Viele der hier Anwesenden aus der Generation meiner Kinder leben in einer solchen und denken nicht daran, das zu ändern. Und ein Blick in die Statistik bestätigt diese persönliche Beobachtung: Die Scheidungs- und Trennungsraten sind gesunken, die Zahl der Kinder ist gestiegen. Beides nicht dramatisch, doch in der Tendenz klar: Wenn meine Generation noch geglaubt hat, die Auflösung der klassischen Familienstrukturen sei unumkehrbar, so hat sich diese Annahme als Irrtum erwiesen.
Dafür gibt es äussere Gründe wie ein verbessertes Angebot zur Kinderbetreuung, und innere wie ein deutlich verbessertes Wissen darüber, wie man Konflikte löst und gedeihlich zusammenlebt. Der wichtigste Grund für die Renaissance der Familie ist jedoch sicher der ungebrochene Wunsch danach: Selbst in den Zeiten der grössten Orientierungslosigkeit in Sachen Zusammenleben gestand in entsprechenden Umfragen immer eine überwältigende Mehrheit, sie träume von einer klassischen lebenslangen Liebes- und Familienbeziehung.
Dass in der Generation meiner Kinder eine wachsende Schar von Menschen versucht hat und versucht, diesen Traum nicht nur zu träumen, sondern auch zu leben, ist ein gutes Zeichen. Ebenso wie die Tatsache, dass der Babyboom der letzten Jahre offenbar zu einem wesentlichen Teil auf den verstärkten Kinderwunsch von Männern zurückzuführen ist. Beides verweist darauf, dass sich das Gerede von der zunehmenden Vereinzelung und Isolation der Menschen als Schreckgespenst erwiesen hat. Zum Glück für den Fortbestand der Menschheit gibt es diese Grundkonstante: Menschen sind keine Einzelwesen, sie wollen mit anderen zusammenleben.
Eine solche Grundkonstante ist kein Glücksfall für Trendforscher, denn sie bewirkt, dass es auf dem Feld des menschlichen Zusammenlebens keine spektakulären Veränderungen anzukündigen gibt. Dass die klassische Familie wieder etwas stärker blüht, bedeutet ja nicht, dass sie wieder zum Monopolmodell des menschlichen Zusammenlebens wird. Dafür ist die Entwicklung dieses Zusammenlebens zu einem vielfältigen Biotop viel zu sehr vorangeschritten.
Apropos Trendforscher: Vor zehn Jahren hat Li Edelkoort, eine Pionierin dieser Branche, unter dem Stichwort „Geschwister“ diese Vorhersage gewagt: »Familienbande werden in unserer schnelllebigen Zeit immer wichtiger. Je globaler wir werden, desto wichtiger werden unsere Wurzeln.«
Diese Vorhersage hat sich als richtig erwiesen – allerdings nur, wenn wir den Begriff der Familie nicht mehr so eng fassen wie vor fünfzig Jahren. Als Geschwister empfinden sich, wie das Beispiel meiner Kinderschar zeigt, längst nicht mehr nur Blutsverwandte. Und wenn wir das mit geschwisterlichen Gefühlen nicht mehr so eng sehen, dann weiten sich die Familienbande ungemein aus: Auch für viele meiner Freundinnen und Freunde empfinde ich so etwas wie geschwisterliche (oder manchmal auch väterliche) Gefühle. Was bedeutet, dass sie zu meiner erweiterten Familie gehören.
Zwischen Familie im engeren Sinne und Freundeskreis verwischen die früher starren Grenzen, genau so wie die klaren Abgrenzungen zwischen meiner und deiner Familie. Oder zwischen „richtiger“ und „nicht richtiger“ Familie. Und das ist gut so. Wir haben dadurch ein enormes Mass an Freiheit gewonnen.
Nun ist Freiheit bekanntlich alles andere als einfach, nicht umsonst gibt es die Rede von der Qual der Wahl. Freiheit bedeutet, ohne klare äussere Richtlinien sein Leben selbst zu gestalten und dabei den Umgang mit Unklarheiten und Widersprüchen zu lernen.
Doch es lohnt sich. Immer mehr Menschen haben in der letzten Dekade erkannt, was für ein ungeheuer ertragreiches Lernfeld familiäre Beziehungen – im weitesten Sinne – sein können. Solche Beziehungen helfen ungemein bei der eigenen Reifung.
Zu jedem Reifungsprozess und zur eigenverantwortlichen Lebensgestaltung gehört die Frage nach der richtigen Form des Zusammenlebens ganz zentral. Das ist eine echte Herausforderung: Das Angebot an unterschiedlichen Möglichkeiten ist unübersichtlich. Was zur aktuellen Lebensphase passt, muss nicht dies nicht zwingend auch für die nächste tun. Und so können wir uns schon mal irren.
Wer aber entscheidet, was die richtige Form des Zusammenlebens ist? Nur wir selbst und unsere Beziehungspartner können das. Denn schliesslich sind es auch wir, die mit den Konsequenzen dieses Entscheids leben müssen und dürfen.
Wie Ihr alle wisst, leben meine Liebste und ich seit Jahrzehnten eine Liebesbeziehung auf Distanz. Das hat sich für uns beide als die optimale Form des Zusammenlebens erwiesen, bisher jedenfalls. Dabei wussten wir immer, dass diese Lösung, nur weil sie zu uns passt, keinesfalls ein allgemeines optimales Modell bildet. Glücklicherweise begegnen sich heute die Anhänger unterschiedlicher Formen des Zusammenlebens mit Toleranz, ja mit gegenseitigem Respekt.
Etwas Mut hat es allerdings schon gebraucht, diesen unseren Weg zu finden und zu leben. Etwas Mut braucht es noch immer, sich für die zu einem selbst am besten passende Form des Zusammenlebens zu entscheiden, unabhängig von Stimmen, die raunen, diese Form sei nun aber doch zu ausgeflippt oder zu spiessig. Diesen Mut wünsche ich Euch allen.
Und nun freue ich mich auf ein frohes Feiern im Kreise meiner so wunderbar erweiterten Familie. Prost!